Klassenfreundschaften halten oft ein Leben lang
von Hans-Jürgen Migenda Mai 1998 für seine ehemaligen Schulkameraden (1944 / 1946)
Wenn man an vielen Schul- und Klassentreffen teilgenommen hat, so kommen einem im gesetzten Alter gar manche Gedenken, die ich hier niederschreiben möchte. Wohl dem, der schon im Kindesalter einen treuen und lieben Spielgefährten an seiner Seite hat. Wird später gemeinsam dieselbe Schulklasse besucht, so kann damit der Grundstein für eine dauerhafte Freundschaft gelegt sein. Neue Gesichter kommen hinzu, und unter günstigen Umständen gewinnt man weitere Freunde. Maßgebend ist dabei ein guter und harmonischer Klassengeist, und ebenso ein richtiges Schulklima. Freunde müssen zueinander passen, so im Charakter, in der Bereitschaft eines gewissen Verständigungswillen, wenn nötig, auch dem andren zu helfen, ihn zu unterstützen und vor allem, friedlich miteinander auszukommen. Eine echte Freundschaft überwindet auch eine Trennung für lange Zeiten. 1938 zogen wir von Naumburg / Saale nach Gladbeck in Westfalen. Die damals geschlossene Freundschaft mit einem Klassenkameraden hat bis heute alle Fährnisse überdauert; trotz verschiedener Berufswege und politischer Systeme.
Oft wachsen Freundschaften in Notzeiten zusammen. Die ältere Generation hat es in und nach dem Krieg zur Genüge erlebt und durchgemacht. Da lernt man seine Mitschüler meist bis ins letzte von allen Seiten kennen. Aus eigenem Erleben können viele der Jahrgänge 1924 bis 1928 das bestätigen. Als Luftwaffenhelfer, Arbeitsdienstmann, Soldat und in der Kinderlandverschickung mußten sie während der Kriegszeit zusammenleben. Bestand schon vordem eine gute Freundschaft untereinander, so konnte man den vollen Anforderungen und harten Aufgaben weitgehend besser gerecht werden, als es ansonsten in einem bunt zusammengewürfelten „Haufen“ geschah. Man half sich gegenseitig, vermochte sich fest auf seinen Freund zu verlassen und fand rechte Hilfe oder wahren Zuspruch in brenzlichen Lagen. So bewährte sich eine echte Freundschaft und festigte den Verband.
Nach dem Krieg fand sich ein großer Teil wieder im Förderkurs zusammen, um so das reguläre, also vollwertige Abitur nachzuholen. In Unterrichtspausen trafen wir alten Freunde uns oft im Café Halbeisen (einer der im Krieg gefallenen Mitschüler entstammte dem Hause). Dabei beschlossen wir, auch künftig zu bestimmten Zeiten dort zusammenzukommen und eine „Klassenbibel“ zu erstellen. In ihr sollten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unseres Klassenverbandes eingetragen und somit festgehalten werden. Tatkräftig nahm unser Henry Wilke - ihm sei an dieser Stelle ein besonderes Lob ausgesprochen – die Ausführung unter widrigen Umständen - es herrschte noch die Reichsmarkzeit, und ohne Bezugskarten war kaum etwas zu erhalten, in Angriff. Seit dieser Zeit liegt die Buchführung bis auf den heutigen Tag in seiner Hand! So bildet die Klassenbibel, auf die wir stolz sind, einen festen Bestandteil unserer Freundschaft und des Bewahrens. In ihr sind alle unseren ehemaligen Lehrer/innen und Mitschüler mit wichtigen Daten aufgeführt. Auch Lebensläufe und Bilder gehören dazu. Etwa alle fünf Jahre wird fortgeschrieben, jedes Klassentreffen wird vermerkt und durch Fotos ergänzt. Manch heiteres, aber auch trauriges Ereignis ist darin festgehalten. Meines Wissens lebt von den ehemaligen Lehrkräften niemand mehr. Von den Mitschülern und Freunden ist ein großer Teil im Krieg gefallen, vermißt oder mittlerweile verstorben. Unser alter Klassenlehrer Studienrat Josef Rüdiger genannt Jüppi, war uns ein Vorbild für die Klassentreffen. Bei einem unserer Zusammenkünfte, an denen er bis kurz vor seinem Tode regelmäßig teilnahm, erzählte er, mit seinen beiden letzten Klassenkameraden träfe er sich noch regelmäßig in Dorsten, wo sie einstens das Gymnasium besuchten; und das, obwohl sie schon auf die 80 Jahre zugingen!
Im Laufe der Zeit wurden aus monatlichen Treffen, bedingt durch verschiedene Studien-, Berufs- und Wohnorte, schließlich jährliche, bis auf den heutigen Tag.
Um eine gewachsene Freundschaft zu pflegen und zu erhalten, gehören ständige Kontakte dazu: in Form von Briefen, Anrufen, Besuchen und kleinen Treffs. Besondere Festtage wie Hochzeit, Geburten, Beförderung oder auch der eigene Geburtstag geben Anlaß, Glück zu wünschen oder gar mitzufeiern. Aber auch schwere Krankheit oder gar ein Todesfall erfordern oft die Gegenwart eines guten, Trost spendenden Freundes. Ein besonderes Ereignis sei noch vermerkt. 1990, nach dem Fall der innerdeutschen Todesmauer, tauchte ein alter Klassenkamerad aus Ostberlin wieder auf, nahm an dem Klassentreffen teil, und kommt seitdem Jahr für Jahr zu uns. Auch damit bestätigt sich der Geist einer wahren Klassenfreundschaft.
Jeder Mensch besitzt Erinnerungen, gute und weniger gute. Oft werden sie wie gepreßte Blüten gesammelt und ruhen lange Zeit im Verborgenen. Doch manchmal wird aus einer Erinnerung Wirklichkeit! So, wenn wir gemeinsam unsere alte Penne in der Breddestraße aufsuchen oder aus besonderem Anlaß zusammenkommen. Dann beginnt das Fragen und Erzählen: Weißt du noch, damals in der Französischstunde hatte einer Niespulver gestreut, und wir husteten und prusteten um die Wette. Schließlich mußte sich der Übeltäter melden, als uns langes Nachsitzen angedroht wurde. Doch Jüppi war gnädig und ließ es bei einer Ermahnung sein. Schließlich war er froh, auch pünktlich nach Hause gehen zu können. - Erinnerst du dich noch der Mathestunde am Dienstag, als unser junger Lehrer G. noch rechtzeitig vom Kölner Rosenmontag so richtig blau zurückkam? Es folgte eine unvergeßliche Unterichtsstunde. Nichts stimmte in den Rechnungen, es lief alles kreuz die Quere und wir hatten unseren Spaß! Nach dieser Stunde mußte er nach Hause (gebracht werden). Zu guter letzt: Im Kriege mußten Lehrer Stunden erteilen, auch in Fächern, die sie nicht studiert hatten. Also gab Jüppi Sportunterricht und ließ uns auf dem Linnefant Fußball spielen, ganz nach Lust und Laune. Während er ein Nickerchen am Buschrand machte, schlichen sich zwei Schüler durchs Buschwerk seitwärts heran und nahmen das neben ihm liegende Notenbüchlein an sich. Am nächsten Tag wurde gefragt, ob wir wüßten, wo sein Notenbüchlein wohl sein könne. Niemand wußte etwas, und so mußte Jüppi rasch neue Noten sammeln. Die Übeltäter waren wohl vorbereitet und schnitten gut ab, besonders derjenige, der unter seinem Namen arg schlechte Noten gefunden hatte. Jahre später, als wir bei einem Klassentreffen beisammen saßen, wurde das streng gehütete Geheimnis gelüftet. Das war nicht gut, denn Jüppi war sehr entsetzt über diese Freveltat, die er uns nie und nimmer zugetraut hatte. - Ich selber hatte einmal als Lehrer mein Notenbuch in der Klasse liegen gelassen, und die braven Schüler brachte es mir gleich zurück!
So lebt ein Stück gemeinsamer Vergangenheit auf, und mag es noch so lange Zeit her sei. Aber wie oft mögen wir noch so froh und fast unbeschwert zusammenkommen? Irgendwann wird es ein endgültiger Abschied sein. Daher mein Wunsch: Nutzet die Zeit und erhaltet die Klassenfreundschaft!
Schließen möchte ich mit einem Vers aus dem Tischlied (1802) von Johann Wolfgang von Goethe: „... Freunden gilt das dritte Glas, zweien oder dreien, die mit uns am guten Tag sich im stillen freuen und der Nebel trübe Nacht leis' und leicht zerstreuen; diesen sei ein Hoch gebracht, alten oder neuen....“
Veröffentlicht ... 1998
© Thorsten Migenda 03.05.2018