Meine Weihnachtsgeschichte - Erinnerungen eines Flakhelfers
von Hans-Jürgen Migenda 02.09.1995
In unserer Kindheit feierten wir Geschwister Weihnachten mit unseren Eltern stets voller Liebe und Geborgenheit. Das galt auch in wirtschaftlich schlechten Zeiten. Am Heiligen Abend gingen wir in die Kirche, aßen zu Abend und betraten dann die gute Stube. Der festlich geschmückte Weihnachtsbaum strahlte in hellem Licht, und wir bewunderten ihn immer wieder aufs neue. Die Eltern begrüßten uns mit besonderer Herzlichkeit, dann las Vater die biblische Geschichte von der Geburt Jesu aus einer alten schlesischen Bibel vor. Das Lied „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!“ erklang zum feierlichen Abschluß. Dann erst wurde die weiße Decke vom Tisch entfernt, und wir bekamen die Geschenke und gefüllten Weihnachtsteller zu Gesicht. Jeder durfte an seinem Platz das Seinige in Empfang nehmen. Auch die nächsten Tage verbrachten wir fröhlich beieinander. Im nachhinein ist es schwer zu entscheiden, welches Weihnachtserlebnis aus dieser Zeit das schönste war.
So möchte ich von einem denkwürdigen und zugleich für mich einmaligen Weihnachtsgeschehen berichten: Es war mitten im vierten Kriegsjahr. Anfang 1943 forderte die Oberste Heeresleitung Schüler für den Einsatz an Waffen an der Heimatfront an, um so die schweren Menschenverluste im Osten auszugleichen. Also gingen wir Schüler der 11. und 12. Klasse geschlossen in die Stellungen der benachbarten schweren Flak im Ruhrgebiet, wo wir noch wohnten. Allerdings sollte wenig später meine Mutter mit den beiden jüngsten Söhnen HaIs über Kopf zu Verwandten in den Hunsrück evakuieren, um so den starken feindlichen Bombenangriffen zu entgehen.
Wir Schüler nannten uns Luftwaffenhelfer (LwH), waren 15 bis 17 Jahre aIt, und wurden sofort an Ortungs- und Meßgeräten eingewiesen. Schule und sonstiger militärischer Dienst liefen nebenher. Das neue, ungewohnte, aber doch vielseitige Leben machte uns, trotz der Doppelbelastung, zunächst noch Freude und Spaß. Den Ernst der Lage hatten wir noch nicht so recht erfaßt.
Da wir einen fronterfahrenen und zugleich einfühlsamen Oberleutnant aIs Kompaniechef und zudem einen energischen Betreuungs- und Klassenlehrer hatten, er war im I. Weltkrieg Kapitän zur See gewesen, behandelte man uns fürsorglich, gewissenhaft und auch kameradschaftlich. Nach militärischer Vorschrift gab es dann und wann ebenso für uns Urlaub. Vorallem waren die Eltern oft besorgt und wollten wissen, wie es uns ergeht.
Nun stand Weihnachten vor der Tür. Jeder Luftwaffenhelfer sollte einige Tage Urlaub erhalten, so verlautete es vom Batteriechef persönlich. Die ortsansässigen Luftwaffenhelfer konnten daher mit Sicherheit nach Hause gehen oder mit der Straßenbahn fahren, notfalls waren sie rasch zurückzurufen! Doch was sollte mit denen geschehen, die weit weg wohnten, weil ihre Mütter mit Geschwistern evakuiert waren und der Vater im Felde stand? Da lohnte ein Urlaub mit Reise nur dann, wenn er für mehrere Tage erteilt würde. Diese Entscheidung konnte erst in letzter Sekunde gefällt werden!
Die Weihnachtsfeier in der Batterie wurde für den 19. Dezember festgesetzt, in Abstimmung mit den vier Nachbarbatterien und dem Kommandeur Major Vieregge. Anfang des Monats begannen die Vorbereitungen. Einige Soldaten meldeten sich freiwillig, auf der Bühne etwas darzubieten. Sie besaßen darin schon Erfahrung. Andere wurden dazu kräftig aufgefordert, oder sie mußten Aufbauarbeit leisten. So waren wir Luftwaffenhelfer auch bereit, zwei Bühnenstücke aufzuführen. Das Ganze legten wir in die Hände zweier eifriger und fleißiger Mitschüler. Sie sollten sich etwas einfallen lassen! Und tatsächlich kamen eine „Weihnachtsphantasie“ und „Humoristische Kleinigkeiten“ zustande. Die für ein Schauspiel am besten Geeigneten übernahmen die Hauptrollen. So probten wir und ebenso andere Gruppen tüchtig in der Kantine, auch wenn einer den anderen dabei störte. Ausgenommen davon waren die Wachsoldaten, Beobachtungsposten, ältere und kriegsverletzte Landser; manch einer hatte sich in Rußland starke Erfrierungen zugezogen!
Nun war es endlich soweit. Der morgendliche Dienst fiel aus. Wir zogen unsere gute Ausgehuniform an, und beim Klingelzeichen strömten die Landser von allen Seiten gruppenweise und fröhlich singend in die hübsch geschmückte und mit Kohle behaglich geheizte Kantine. Ein großer Christbaum, mit glänzenden Kugeln und glitzernden Silberfäden behangen, erstrahlte im hellen Kerzenlicht. Aus Sicherheitsgründen standen gefüllte Wassereimer, Feuerpatsche und eine Sandkiste daneben. Man hatte die Brandgefahr eines lichterloh brennenden Tannenbaumes in dieser Holzbaracke, die mit Soldaten restlos gefüllt war und nur einen Ausgang besaß, wohlbedacht! „Werft immer ein Auge auf den Baum und die Kerzen!“ so hieß es für die Aufpasser.
Eine einfache, doch stabile Holzbühne stand seitlich im Raum, Tische, Stühle und Bänke waren reihum so angeordnet, daß alle Soldaten Platz fanden und eine gute Sicht hatten. Während der ersten Vorbereitungen zum Bühnenauftritt holten sich die langgedienten und alteingesessenen Landser von der Theke das würzige Bier und labten sich zügig daran. „Endlich gibt es wieder einmal deftiges Bier anstelle des alkoholarmen Dünnbieres. Laßt uns diese günstige Gelegenheit nutzen!“ prosteten sie sich einander zu. Auch als der Spieß, der die Oberaufsicht führte, ihnen einen mahnenden und zugleich mißbilligenden Blick zuwarf, störten sie sich nicht daran und stießen mit ihren Gläsern um so kräftiger an. Da wand er sich ab und sprach ein ernstes Wort mit dem Thekenwirt. Er kannte schließlich seine Pappenheimer und meinte, nach der Feier sei noch genug Möglichkeit, sich einen anzutrinken. Endlich kehrte Ruhe ein, und der erste, besinnliche Teil der Weihnachtsfeier konnte beginnen. Wir Luftwaffenhelfer starteten mit unserer „Weihnachtsphantasie“ - und ernteten Beifall! Es folgte ein kräftiger Männerchor mit dem Lied „Heilig, heilig ist der Herrgott“, sodann ein Prolog unseres vortrefflichen Wachtmeister Posth. Die Ansprache unseres Batteriechefs Oberleutnant Wiedemann bezog sich ganz auf das Weihnachtsgeschehen (die Politik war wohlweislich ausgeklammert), und schließlich erschien laut polternd Obergefreiter Borstel als Weihnachtsmann, wozu er bestens geeignet war. Würdig und mit unerschütterlicher Ruhe lobte oder tadelte er den einen und anderen, ohne Rücksicht auf Vorgesetzte oder Kameraden. Sie mußten sich ihre guten oder argen Taten anhören und schließlich Besserung geloben! Die Drohung mit der mächtigen Rute genügte.
Noch mancher gut gelungene Auftritt folgte und wurde stets mit kräftigem Beifall bedacht, sogar die vorgelesene „Ansprache“ des Kommandeurs. Gemeinsam erklang zum Abschluß des ersten Teils das Lied vom Tannenbaum, allen Sängern wohlbekannt.
Nun kam der langersehnte Augenblick: das Essen. Gedecke, Suppenterrinen und Schüsseln mit Fleisch und Gemüse wurden herbeigeholt und auf die mit Tüchern versehenen Tische gestellt. So ein reichhaltiges, leckeres und vielseitiges Gericht gab es nur zu Weihnachten! Koch und Gehilfen hatten sich redliche Mühe gegeben, uns meist hungrigen Soldaten ein solches Mahl zu bieten. Vor allem das Geflügel war ein besonderer Schmaus! Gänsebraten mit Apfelrotkraut und Klößen einmalig - und wie bei Muttern zu Haus. Dazu schenkte der Verpflegungsunteroffizier einen guten Tropfen edlen Weines wohldosiert in die Gläser. Beschafft war es von „Opa Weber“, der im Spätherbst Ernteurlaub erhalten hatte, mit dem lauten Wunsch, er möge bei seiner Rückkehr nicht nur Obst, sondern auch Wein von seinem Moselgehöft mitbringen; selbstredend gegen Reichsmarkbezahlung.
Nach der ausgiebigen Pause folgte der 2. Teil, nunmehr heiter und wohlgemut, aber dennoch einer Weihnachtsfeier gut angepaßt. Die aus der Ostmark (vormals Österreich) stammenden Soldaten warteten mit einem Schrammelquartett auf und brachten uns heimatliche Klänge mit „Wien bleibt Wien“ zu Gehör. Obergefreiter SameI verstand es meisterhaft, in handfertiger Weise verblüffende Zauberkunststücke vorzuführen, und Wachtmeister Posth übte mit Batterieangehörigen einen Exerzierdienst, wo fast alles schief ging. Übertriebene Gestik und urige Pose der Schauspielerlaien, verbunden mit hilflosem Mißverständnis und dummer Tölpelei, reizte unentwegt zum Lachen. So schalteten wir von dem Alltagsgeschehen mit den nächtlichen Fliegerangriffen und unserem Abwehrfeuer für einige wenige Stunden ab. Mancher saß anfangs sprungbereit auf seinem Stuhl, weil er wieder einen Vollalarm befürchtete. - Vom weiteren Programm mit insgesamt 27 Darbietungen seien genannt: Schattenspiele, Büttenrede(!), „Die Bürgschaft“, humoristische Kleinigkeiten, „Fox tönende Wochenschau“ und der Sketch „Der Kunstschütze“ von unserem Spieß Dallüge, der dazu am besten geeignet war, da er immer mit stolzgeschwellter Brust - dekoriert mit der silbernen Schützenschnur - einherging. Zum Abschluß gab es Milchkaffee, mit einer Prise echten Bohnenkaffee gewürzt, dazu für jeden einen Pappteller, der mit Plätzchen, Nüssen und Kuchenstücken reichlich versehen war. Für uns Luftwaffenhelfer hatte man als besondere Zulage jeweils eine kleine Schachtel mit Pralinen bereit. Wir waren baß erstaunt, wie und woher diese vielen Leckereien „beschafft“ worden waren. Diese Weihnachtsfeier war alles in allem für uns Luftwaffenhelfer etwas völlig Neues und bisher Einmaliges. Ein solch abwechslungsreiches Programm, in dem fast die gesamte Mannschaft eingebunden war, hatten wir nicht erwartet. Unserer Batterieleitung und allen Beteiligten gebührte dafür ein vortrefflicher Dank.
Wir Luftwaffenhelfer gingen abends in unsere Baracken. Es sei an der Zeit, so verlautete es, pünktlich ins Strohsack-Bett zu kommen, denn wir müßten als Jugendliche und Schüler am nächsten Morgen rechtzeitig zum Unterricht. Währenddessen feierten die Soldaten bei Bier, Wein, etwas Schnaps und fröhlicher, stimmungsvoller Musik bis tief in die Nacht. Immerhin stand in einer Kantinenecke ein voll funktionsfähiges Klavier; zugehöriger Spieler, ein Geigenkünstler und ein Trompetenbläser fanden sich rasch ein. Am nächsten Tag erfuhren wir genügend über den feuchtfröhlichen Weihnachtsfeierabschluß.
Selbstverständlich wurden Wachpersonal und Beobachtungsposten so abgelöst, daß auch sie zeitweilig an unserer Feier teilnehmen konnten. Nicht zu vergessen waren die Hilfswilligen (Hiwis) von russischen Gefangenen, die sich freiwillig zur Flak gemeldet hatten und bei den Geschützen mit gutem Erfolg eingesetzt waren. Für sie gab es eine Sonderration an Verpflegung, Getränken, Kuchen samt Plätzchen und vor allem „Machorka“, eine russische Tabaksorte. Wir waren alle froh, daß es keinen Fliegeralarm, noch nicht einmal Voralarm gegeben hatte. Damit konnte die schöne und denkwürdige Feier ungestört verlaufen. Die nächste Kriegsweihnacht 1944 fand uns ehemaligen Luftwaffenhelfer überall an den Kampffronten im Einsatz, wo es keinesfalls mehr so weihnachtlich zuging.
Knapp vor dem 24.Dezember durften alle Luftwaffenhelfer nach Hause fahren, auch jene, für die es noch sehr fraglich gewesen war. Irgendwie hatte die Batterieführung eine Einsatzverteilung gefunden, die uns für die Feiertage entbehrlich werden ließ. So fuhr ich mit wenigem Gepäck von Gelsenkirchen-Buer aus dem Ruhrgebiet in der Eisenbahn den Rhein entlang bis Bingerbrück, dann nach Stromberg in den Hunsrück, und weiter 4 km zu Fuß nach dem Dorf Dörrebach. Dort lebte seit einem halben Jahr meine Mutter mit den beiden Jüngsten bei ihrem Onkel in engen Verhältnissen. So traf ich abends noch überraschend ein; meine Mutter hatte gar nicht mehr mit meinem Kommen gerechnet. Um so größer war die Freude des Wiedersehens! Seit meinem letzten Urlaub waren Monate vergangen, und so gab es viel zu erzählen und zu berichten. Den Weihnachtsabend feierten wir der Zeit entsprechend einfach und schlicht. Immerhin war ein Tannenbaum aufgestellt, mit einigen Kugeln und spärlichem Lametta geschmückt. Dazu brannten farbige Herzen, die unsere Mutter mit Mühe besorgt hatte. Die Zeitverhältnisse lagen so, daß es Lebensmittel und wenige Artikel des täglichen Bedarfs nur auf Bezugskarten gab, alles andere erhielt man nur selten mit etwas Glück oder leider allein durch gute Beziehungen. Das „Festessen“ fiel daher sparsam und mager aus, doch zum Glück brachten uns der Onkel und die Tante einen selbstgebackenen Kuchen aus dem eigenen Backes -, frische Kuhmilch, gut gelagerte Äpfel und eine große Schüssel voller Latwerg, also selbstgemachten Pflaumenmuses. Alles kam wie gerufen und schmeckte uns köstlich. Leider hatte mein Vater, er war zwei Tage vor Kriegsbeginn mitten in der Nacht rasch einberufen worden, keinen Urlaub erhalten. Er tat seinen Dienst in Oberschlesien. Und unsere Schwester Annemarie betreute Mädchen in der Kinderlandverschickung im Böhmischen. In Gedanken weilten sie bei uns. Noch herrschte in den Gebieten im Osten trügerische Ruhe und Frieden. Aber keiner wußte genau, was die nächste Zeit, das neue Jahr bringen würde. Man ahnte die kommende Ungewißheit, vielleicht sogar das Verhängnis, und was unsere Schwester bislang aus Böhmen und Mähren zu berichten wußte, klang nirgendwie erfreulich. Dennoch verbrachte ich einige schöne, geruhsame und friedliche Tage in unserer neuen Umgebung. Silvester und Neujahr wurden - zum Glück - ohne Feuerwerk begrüßt, im Gegensatz zu meinen Kameraden im Ruhrgebiet, die mit „Christbäumen“ der Feindbomber am Himmel beglückt wurden und darauf mit ihren Geschützen ein eigenes Feuerwerk gegen die Flugzeuge starteten. Diese Christbäume waren eine Schar von hellbrennenden und gleißenden Lichtkugeln, die lange in der Luft schwebten und das Bombenabwurfgebiet kennzeichneten. Hier galt es dem Hydrierwerk Scholven. Aber das erfuhr ich erst nach meiner Rückkehr im neuen Jahr 1944.
1995 gekürzt veröffentlicht von der Rhein-Zeitung unter "Meine Weihnachtsgeschichte - Leserinnen und Leser unserer Zeitung erzählen"
© Thorsten Migenda 15.12.2017