Nachkriegsabitur 1946
von Hans-Jürgen Migenda Mai 1996
Am 1. September 1939 beginnt der 2. Weltkrieg. In unserer Schule wird ein im Erdgeschoß liegender Raum zum Luftschutzkeller ausgebaut; wir halten nach Anweisungen Luftschutzübungen ab. Dann und wann erscheinen tagsüber einige britische Flugzeuge zur Aufklärung und Erkundung. Es fallen auch Bomben, meist auf zivile Objekte. Wir sammeln Eisensplitter der in der Luft zerborstenen Granaten. Jüngere Lehrer und Assessoren werden zur Wehrmacht eingezogen, ältere Pensionäre nehmen den Dienst wieder auf, Lehrerinnen kommen zu uns, die wir freudig begrüßen. 1941/42 haben wir Rußland und Amerika als weitere Kriegsfeinde; der gefürchtete Zweifrontenkrieg ist eingetreten. Die Lage wird für die Mittelmächte kritisch. Dennoch sind viele, insbesondere die jüngere Generation, vom Endsieg überzeugt. Die verlorene Schlacht von Stalingrad am 7.2.1942 zwingt die Reichsregierung, hart zu handeln und alle verfügbaren Kräfte zu mobilisieren. So erfolgt am 26.1.1943 die Anordnung über den „Kriegshilfsdienst der Jugend“. Die Oberschüler der Klassen 6, 7 und der Rest von 8 (nach heutiger Zählung 10, 11 und 12) der Jahrgänge 1927/26/25 werden nach kurzer Musterung als Luftwaffenhelfer zur Flak einberufen. Die Einsatzorte sind die Stellungen bei Buer-Heege, Scholven-Ulfkotte, Polsum und Marl-Brassert. Am 18.2.1943 ruft der Reichsminister Dr. Josef Goebbels zum „Totalen Krieg“ auf. Mittlerweile stehen die Luftwaffenhelfer zuverlässig ihren Mann, der Schuldienst geht eingeschränkt und oftmals unterbrochen in den Stellungen und teilweise im Hindenburg-Gymnasium weiter. In jungen Jahren verkraftet man die Hektik noch gut, wünscht aber doch, daß der immer härter werdende Krieg bald zu Ende gehe. Besonders in Erinnerung bleibt ein Großangriff auf die Kruppwerke in Essen, der Abwurf von Staniolstreifen, wodurch die elektrische Flugzeugortung ausgeschaltet wird, und einige Angriffe auf die Hydrierwerke Scholven. Am 15.1.1944 gelangen die Schüler des Jahrgangs 1928 in die Stellungen und der Jahrgang 1926 wird mit dem „Reifevermerk“ zum Reichsarbeitsdienst und sodann zur Wehrmacht entlassen. Der Krieg endete am 7.5.1945 an der Westfront und zwei Tage später im Osten.
Nach und nach trafen die ehemaligen Schüler – bis auf die Gefallenen – aus der Gefangenenschaft, Lazarett oder Unterschlupf in ihrer Heimat ein. Das Gebäude des Gymnasiums war nahezu ausgebrannt und zerstört; im Kellerbereich des Hofflügels wurde eine kleine Firma untergebracht und war daher vorerst nicht zum Unterricht freigegeben. Dem noch verbliebenen Lehrerkollegium der Schule stellte sich die brennende Frage, wie es weitergehen möchte. Doch man zögerte nicht und packte, wenn auch zunächst mit wenigen Kräften, tüchtig an. Schüler eilten ebenfalls zur Hilfe. Ich entsinne mich, daß nach meiner Entlassung aus russischer Gefangenschaft in unserem Evakuierungspunkt Bad Kreuznach mich meine erste Fahrt im Spätsommer 1945 nach Gladbeck und sodann nach Buer zur Schule führte. Dort fand ich zwei Lehrer vor – ich meine es seien Joseph Rüdiger und Dr. Alfons Brand (genannt „Kuli Brand“) gewesen – die fleißig Akten und gebündelte Hefte aus dem Keller des Schulgebäudes an der Breddestraße in noch benutzbare Räume umsetzten. Mir widerfuhr eine so herzliche und aufrichtige Begrüßung, wie ich sie keinesfalls erhofft hatte! Da hieß es: „Auch Sie, Herr Migenda, haben den Krieg überstanden! Wie geht es Ihnen, was machen Ihre Angehörigen?“ und so fort. Im weiteren Gespräch erfuhr ich dann, daß irgendwann der Unterricht wieder aufgenommen würde, und der Schüler mit dem Reifevermerk für ein Vollstudium das geregelte Abitur benötigten. In 2 oder 3 Monaten sollte nachgefragt werden, dann wüßte die Schulleitung mehr. Weitere Arbeitskräfte würden noch zum Aufräumen gesucht. Froh war ich, noch Namen mittlerweile zurückgekehrter Mitschüler zu erfahren, die sich ebenfalls vorsorglich nach dem weiteren Schulunterricht erkundigt hatten.
Im Spätherbst kehrte mein Vater sehr abgemagert aus französischer Gefangenschaft nach Hause. Da packten wir die Möbel und zogen nach Gladbeck, obwohl das Einfamilienhaus mit zwei Mietparteien besetzt und teilweise beschädigt war. Rasch wurde es mit den damaligen Hilfsmitteln instandgesetzt. Im Gymnasium in Buer waren die Verhältnisse mittlerweile soweit gediehen, daß feststand, der Unterricht könne Anfang 1946 im ehemaligen Oberrealgymnasium, danach Heimatmuseum, an der Horster Straße beginnen. Wir Nachkriegsabitur-Anwärter zögerten nicht, sondern packten kräftig an, verstauten die vielen Museumsstücke in Kisten und Pappkartons, halfen beim Verladen und schleppten die Gegenstände in den Keller. Der damalige Museumsleiter Professor Schmidt war sehr um den Bestand aller teile besorgt. Jedes sollte vorsichtig und behutsam behandelt werden, damit nichts beschädigt oder gar zerbrochen würde. Schließlich hatte er über viele Jahre sein Museum mit Liebe, Sorgfalt und Mühe aufgebaut und über die Kriegszeit gerettet! In den nächsten Tagen wurden Tische, Bänke, Schränke und tafeln in die vorgesehenen Unterrichtsräume und Lehrerzimmer gebracht. Als alles beendet war, konnte man sagen: „So etwa hat das alte Oberrealgymnasium ausgesehen!“ Der Schulhof war zwar etwas klein, genügte aber unseren damaligen bescheidenen Ansprüchen. Im übrigen grenzte seine rückseitige Mauer an den Schulhof des Hindenburg-Gymnasiums, und von einigen Fenstern aus konnte man dieses Gebäude erblicken.
Der Antrag für den ersten „Sonderlehrgang“ zur Erlangung der Reifeprüfung für Kriegsteilnehmer mit „Reifevermerk“ wurde gestellt, etliche Heimkehrer hatten sich gemeldet. Der Unterricht begann am 10. März 1946. Frühmorgens versammelten wir uns in dem größten Raum. Der von der englischen Besatzungsmacht vorläufig eingesetzte Schulleiter, Herr Oberstudienrat Otto Hartmann (genannt „Ötte Hartmann“) hielt eine kurze Rede; an den Inhalt entsinne ich mich nicht mehr. Er war deshalb eingesetzt worden, weil er nicht in der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) oder einer ihrer Organisationen gewesen war und deshalb, wie es so schön hieß, eine „weiße Weste“ hatte. Dennoch kam rasch das hartnäckige Gerücht auf, auch Ötte habe einstens einen Aufnahmeantrag an die Partei gerichtet, der aber – gleich aus welchen Gründen – abgelehnt worden sei. Sein damaliges Mißgeschick schien sich nunmehr zu seinen Gunsten gewandelt zu haben.
Soweit ich mich entsinne, wurden zwei Förderklassen gebildet. Die Räume befanden sich, auf Erd- und Obergeschoß verteilt, zum Hof hin. Unser Klassenlehrer Herr Hugo Vennebusch regelte in der ersten Stunde das Notwendigste, legte Listen an, verteilte die Stundenpläne und schloß mit dem Wunsch auf eine gute gedeihliche Zusammenarbeit. Dem stimmten wir voll zu. In den ersten Unterrichtstagen tauchte eine Schwierigkeit auf. Manch ältere Schüler hatte als erste Fremdsprache Französisch erhalten, die ab 1937 eingeschulten jedoch generell Englisch. Nun sollten wir ausnahmslos Englischunterricht erhalten und im selben Fach fürs Abitur geprüft werden. Für zwei Schüler bedeutete diese Umstellung keine Schwierigkeit, da sie in englischer Gefangenschaft die Landessprache genügend erlernt hatten. Doch wir anderen setzten uns hin und begannen im Sauseschritt, Englisch zu büffeln, da die Schulleitung eisern auf ihre Anweisung beharrte. Das ließ unseren Klassenkamerad Conrads nicht ruhen. Er setzte sich in einen Zug Richtung Münster und sprach dort bei der zuständigen Bezirksregierung vor. Sie zeigte volles Verständnis für unsere Belange und entschied eine rasche, für uns positive Lösung: Wahlweise zum Englischunterricht wurde parallellaufend Französisch erteilt, und das Abitur war ebenso abzulegen. Wir beglückwünschten Karl-Heinz Conrads zu seinem mutigen und erfolgreichen Schritt! Er hatte eine gerechte Lösung aufgezeigt! Unser „Jüppi“ Rüdiger lehrte uns wie in alten Zeiten Französisch. Und das geringe Entgelt für seine halb private und halb amtliche Tätigkeit in noch gültiger, jedoch geringwertiger Reichsmark zahlten wir gerne. Bei schönem Wetter setzten wir uns zuweilen in den Schulhof, wo der Unterricht in aller Ruhe und Gemütlichkeit vonstatten ging. Um in allen Fächern lehren zu können, fehlten die Klassenräume und die Lehrkräfte. So fielen für uns die Fächer Chemie, Biologie, Erdkunde, Leibesübungen (Sport), Zeichnen und Kunsterziehung sowie Geschichte aus. Zum einen hieß es, diese Fächer brauchten wir für den Aufbau der zerstörten Städte sowieso nicht, und das Fach Geschichte müsse noch umgeschrieben und völlig neu entworfen werden. Diese Auffassung hatten wir zu schlucken. Für Geschichte, Erdkunde, Chemie und Biologie wurden daher auf dem Zeugnis die letzten Noten aus der Kriegszeit mit einem entsprechenden Vermerk übernommen.
Unser großes und ruhig gelegenes Klassenzimmer befand sich am Ende des Ganges, zum Hof hin. Bis zu 36 Schüler wurden darin unterrichtet, wovon einige zuvor das im Kriege zerstörte und noch nicht wieder aufgebaute Horster Gymnasium besucht hatten.
Folgende Lehrkräfte sind mir noch in Erinnerung: Die Herren StR. Alexander Kortenkamp (Latein), Joseph Rüdiger (Französisch), StR. Josef Tecklenborg (Mathematik und Physik), StR. Maria Dosedal (Deutsch), OStR. Otto Hartmann (Englisch), Pfarrer Kurt Grolman (ev. Religion), Pastor(?) Dr. Wilhelm Sahner (kath. Religion), StR. Hermann Ickling (Mathematik). StR. Hugo Vennebusch (Deutsch). Einige Lehrer mußten noch in „Wartestellung“ bleiben. Ihr mehrseitiger politischer Fragebogen wies zu viele „braune“ Flecken auf. Der Entnazifizierungsausschuß, bestehend aus Mitgliedern der neu zugelassenen Parteien und Antifaschisten, hielt sie für unwürdig und nicht geeignet, einen vorbildlichen und demokratischen Unterricht zu erteilen! Da half auch kein noch so großer Lehrermangel. Eines Tages erschienen zwei Lehrkräfte nicht mehr zum Unterricht, sie mußten vorab ihren Dienst quittieren. Es hatte sich herausgestellt, daß der eine Mitglied der Reiter-SS und der andere förderndes (nur zahlendes) Mitglied der SA war. Beide hatten vordem wohl unter dem Druck der NS-Partei versucht, das kleinste Übel zu wählen, waren aber nunmehr vom Regen in die Traufe gekommen. Wir Schüler waren baff erstaunt zu erfahren, daß beide einer NS-Organisation angehört hatten, galten sie doch als ausgesprochen ablehnend den einstigen Machthabern gegenüber! Es sei vermerkt, sie und andere Entnazifizierte gelangten in späterer Zeit in Amt und Würden, teilweise aber mit Gehaltsabstrichen. Nennen möchte ich noch den bisherigen Leiter des Hindenburg-Gymnasiums, Herrn Oberstudiendirektor Karl Freibüter, der bis zum Kriegsende Direktor der Schule war. Von Hause aus Westfale und gläubiger Katholik, versuchte er als „Mußparteigenosse“, so gut es ging, die Schule durch alle Fährnisse und Anfechtungen sicher zu lenken. Er war eine Persönlichkeit von schnellem und dennoch wohl bedachtem Entschluß, er handelte zielstrebig und tatkräftig in seinen Ausführungen, war mitmenschlich und Erneuerungen gegenüber aufgeschlossen. Man wußte die Schule trotz der damaligen NS-Zeit in den richtigen Händen. Aber allen Recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann! So hatte er einst einen Schüler verärgert, der nun nach den „Jahren des Heils“ vermeinte, an ihm sein Mütchen kühlen und späte Rache nehmen zu müssen. Er denunzierte ihn bei der englischen Besatzungsmacht als alten „Nazi“. Damit flog er aus dem Schuldienst. Ihm begegnete ich etwa Ende 1945 / Anfang 1946 in Buer. Freudig begrüßte er mich, fragte nach dem Woher und Wohin, wie es meinen Angehörigen und mir ergangen sei, und schließlich entschuldigte er sich, daß er nunmehr einen Bart tragen müsse. Eine Krankheit habe eine Überempfindlichkeit seiner Haut bewirkt, so daß er sich nicht mehr rasieren dürfe. Er selbst könne sein Amt nicht ausüben, da der „Zeitgeist“ es nicht zuließe. Dasselbe konnte ich ihm von meinem Vater berichten, der mittlerweile als Vorarbeiter in einer Ziegelei tätig sei. Unser ehemalige Direktor gab sich zwar sarkastisch-optimistisch, doch den Sturz aus seiner Stellung vermochte er kaum zu verbergen. Nur bedingt konnte ich ihn trösten, daß es vielen ähnlich erginge. Immerhin bestünde im laufenden Berufungsverfahren eine gewisse Aussicht, wieder als Lehrer in den Beruf zu kommen. Doch da winkte er resignierend ab, die Umstände seien dagegen. Zum Abschluß verabschiedete er sich mit einem lateinischen Spruch, den er noch rasch übersetzte und dabei meinte, das in der Antike gesprochene Wort gelte ebenso noch heute. Im Jahre 1948 verstarb er; der Kummer dürfte seinen Tod beschleunigt haben. An seiner Beerdigung nahm die Schulgemeinde offiziell nicht teil. Man überließ es jedem Lehrer und Schüler, an den Trauerfeierlichkeiten teilzunehmen. „Beschämend“ meinte mancher dazu und erinnerte an den großartigen Empfang wenige Jahre zuvor, den man einem ehemaligen Schüler, dem General Galland aus Westerholt, gegeben hatte. So ändern sich die Zeiten.
Oberstudienrat „Ötte“ Hartmann entwickelte als neuer und vorläufiger Schulleiter eine ungeahnte Aktivität. Überall, wo es etwas zu regeln oder auszuführen war, wirkte er. Dabei erreichte sein Übereifer zuweilen das Gegenteil. Die Aufgaben, die auf die Schule zukamen, waren vom Umfang viel zu groß, als daß sie nur von einem hätten bewältigt werden können; ein Delegieren von Aufgaben an andere Kollegen wäre ein guter Schritt zu seiner Entlastung gewesen. So beneidete ihn keiner um seinen Posten oder hätte gar mit ihm getauscht. Auch sprach man davon, daß in absehbarer Zeit ein neuer Schulleiter eingesetzt werde. Als Englischlehrer beherrschte er meisterlich sein Fach, verstand es ausgezeichnet seinen Schülern die englische Sprache anschaulich beizubringen und ging wesentlich auf die unterschiedlichen Kenntnisse einzelner ein. Man nahm gern an seinen Stunden teil.
Eines Tages hörte man „Ötte“ lauthals schimpfen. Wir vermuteten richtig, es mußte etwas Schreckliches geschehen sein! Schließlich ließ er alle Schüler zusammenrufen und verkündete, zwei Schüler unserer Anstalt hätten in der vergangenen Nacht die Schaufensterscheibe des seit kurzem eröffneten KPD-Büros (KPD = Kommunistische Partei Deutschlands) in der Horster Straße mit Steinen eingeworfen. Aber diese schimpfliche Untat gegen eine zugelassene und demokratische Partei sei sofort entdeckt worden, und die Polizei habe den Übeltäter umgehend ermittelt. Er selbst habe soeben diese beiden Schüler von der Schule verwiesen. Dann ließ er uns verblüfft stehen. Wir waren sehr erstaunt darüber, wie man die beiden Schüler so rasch festgestellt und überführt hatte. Manche meinten zu Recht, es fehle die gesetzliche Grundlage, beide vor jeder Gerichtsverhandlung und Aburteilung von der Schule zu verweisen. Bald erfuhr man, daß sie wohl infolge einer plötzlichen Eingebung sehr dilettantisch die Scheibe zertrümmert und dabei noch einen Gegenstand beim Davonlaufen verloren hätten, der die Kripo auf die richtige Spur brachte. Wenige Tage später hatten sie eine geringfügige Strafe erhalten; das ganze wurde als „Dummejungenstreich“ dargestellt. Der Schulverweis war ungültig, und beide Schüler setzten ihren Unterricht fort. Im übrigen fand diese „schmähliche“ Tat viel Anklang bei den Schülern und in der Öffentlichkeit. Denn was diese Partei in ihrem kommunistischen Blatt, ganz im Sinne der Zentrale in Moskau, veröffentlichte, fand keine Gegenliebe, sondern stieß auf erhebliches Unbehagen. Bald schloß das Büro mangels Interesse und Nachfrage. Vermutet werden darf auch, daß die milde Verurteilung (wenn nicht sogar ein Freispruch) ganz im Sinne der Engländer lag, oder sogar auf ihr Geheiß hin erfolgte. Ich habe später erfahren, daß die örtliche britische Dienststelle manche harte oder nicht gerechtfertigte Entscheidung der deutschen Behörden milderte oder gar aufhob.
Studienrat Alexander Kortenkamp besaß eine lange schulische Erfahrung. Gut vorbereitet, begann er den Lateinunterricht mit einem bestimmten und wohlgeplanten Lehr- und Lernschema. So konnte man dem Unterricht aufmerksam folgen und die wichtigsten Leitsätze sich fest einprägen. Er ging auch auf die Feinheiten der lateinischen Sprachen ein, die er an Beispielen untermauerte. Wir, die den Krieg auch an der Front mit allen Schrecken und blutigem Graus mitgemacht hatten, hielten manches für überzogen und nicht mehr zeitgemäß. So wagte ein Mitschüler, er mochte etwa 24 Jahre alt gewesen sein, eines Tages, lauthals gegen diese altüberlieferte Tradition kräftig zu protestieren. Ein Wort ergab das andere, und eine heftige Auseinandersetzung schien sich anzubahnen. Doch „Ali“ setzte seine ganze Autorität ein, um eine sich anbahnende Debatte zu verhindern. Er sagte ganz zielbewußt: „Ich verbitte mir höflich, aber ganz energisch jede weitere Diskussion darüber!“ Sprach’s und es kehrte Ruhe ein. Der Unterricht ging, wenn auch in gespannter Atmosphäre, weiter. In allen weiteren Unterrichtsstunden vermied der Lehrer weitere Ansatzpunkte zu einer Kritik und erklärte uns ebenfalls, warum er eine gute Kenntnis der lateinischen Sprache und Grammatik für so wichtig erachte. Seit dieser Zeit gab es keine Aufmüpfigkeit in seinen Stunden. Wenig später verließ uns dieser Schüler. Er deutete an, er werde einen ihm zusagenden Beruf ergreifen. – Viele Jahre später traf ich unseren Lateinlehrer Kortenkamp am Ortsausgang von Buer, er war mittlerweile schon lange in Pension gegangen. Er wirkte heiter, gelöst und wohlgemut, berichtete, daß er täglich weite Wanderungen durch die freie Natur unternähme, so heute nach Gladbeck. Das geschähe aus Gesundheitsgründen, weil ihm die Bewegung in der freien Natur gut bekomme. Frohgemut setzte er seinen Weg fort. Bis in ein hohes Alter blieb er aktiv und nahm an manchem Schultreffen im Kreise seiner alten Klasse teil.
Studienrat Josef Tecklenborg erteilte Physik- und Mathematikunterricht, obwohl er in letzterem Fach nur die Befähigung für den Unter- und Mittelstufenunterricht besaß. Aber in dieser Notzeit gab es keine Ausnahme. Physik fand in einem eigens dafür hergerichteten Raum statt. Geräte waren von irgendwoher beschafft oder geliehen worden. So konnte der Physikunterricht abwechslungsreich und mit Versuchen anschaulich gestaltet werden. Er machte uns Spaß und brachte eine Auflockerung im schulischen Alltag. In Mathematik besinne ich mich gut an die Sphärische Trigonometrie. Sie war für uns ein neues und interessantes Gebiet. Da „Teckel“ sie ausführlich beschrieb, vermuteten wir richtig, daß gewiß eine Abituraufgabe davon handeln würde. So kam es auch. Neu und ungewohnt war für uns, daß er zuweilen kleine Geschehnisse oder Episoden aus seinem Leben erzählte. Das nahm dem manchmal als eintönig empfundenen Stoff die aufkommende Langeweile. So berichtete er, daß einstens ein ehemaliger Schüler einen Gruß aus der Ferne an die Herren „Potteckels“ in das Hindenburg-Gymnasium geschrieben hatte. Kein Lehrer kannte diese Herren. Schließlich ging einem die Leuchte auf und er stellte fest, damit seien die drei Kollegen „Pott“, „Teckel“ (Tecklenborg) und „Eis“ gemeint, zusammengezogen zu „Potteckels“. Meinungsverschiedenheiten gab es über die Benotung. Wir hatten Klassenarbeiten untereinander verglichen und vermochten uns bei gleicher Fehlerzahl die unterschiedliche Notengebung nicht erklären. Diese Beanstandung war für die damalige Zeit doch ein unerhörter, ungewohnter Vorgang, zumal wir uns merklich zu Wort meldeten. Schließlich wurde geschlichtet und künftig hatten wir kaum noch etwas auszusetzen. Wir konzentrierten uns mehr denn je auf den vielfältigen Unterricht mit dieser hohen Stoffülle.
Studienrat Vennebusch kam vom Horster Gymnasium, war für uns daher ein neuer Lehrer. Meist saß er hinter dem Lehrerpult und erteilte von dort aus den Unterricht. Gerade im Fach Deutsch – von der Geschichte ganz zu schweigen – war es sehr schwierig, im Sinne der neuangebrochenen Zeit und der sich anbahnenden Umerziehung auf die geforderten demokratischen Veränderungen einzugehen. Da die alten Schulbücher nunmehr tabu und neue noch nicht in Bearbeitung waren, griff man zu alt bekannter Literatur. Sie war im allgemeinen für den Schulgebrauch freigegeben, sofern sie nicht militärisch, wie etwa Caesars „Gallischer Krieg“ (!), waren; ja, er stand auf dem Index der Siegermächte. Sozusagen als Ausgleich der bis dahin benutzten nationalsozialistischen Literatur nahmen wir nun „Nathan der Weise“ (Lessing) und „Die Judenbuche“ (Annette von Droste Hülshoff) durch. Ein neuer Aspekt eröffnete sich für uns. Wir staunten, wie gut Herr Vennebusch darauf vorbereitet war und wie einfühlsam er den Stoff darstellte. Er muß manchesmal gemerkt haben, daß wir nicht dem gebotenen Ernst bei der Sache waren, aber die Unaufmerksamkeit übersah er geflissentlich. Besonders intensiv wurde Schillers Wallenstein besprochen, galt es doch, ein mögliches Abiturthema genügend zu behandeln.
Frau Dosedal hatte uns schon während der Kriegszeit Unterricht erteilt. Sie war gut gelitten, es machte uns Freude, sie in unserer Klasse zu wissen. Im Kriege stand sie noch mit manchem ehemaligen Schüler, der irgendwo an der Front eingesetzt war, in schriftlicher Verbindung. Ich meine, sie habe uns vertretungsweise eine kurze Zeit lang unterrichtet, froh und heiter, mit viel Feingefühl wie eh und je. Sie leitete die Parallelklasse.
Französischunterricht mit Studienrat Rüdiger fand meistens in einem kleinen Raum statt. Wir kannten ihn von der Sexta her in den Fächern Französisch, Erdkunde und Geschichte. Und während des Krieges sprang er auch in den Fächern Gesang/Musik und Sport ein. Er war ein vielseitig begabter, unermüdlicher und zudem künstlerisch veranlagter Mensch. Er kannte uns – und wir ihn ebenso – mit allen Vorzügen und Schwächen. Aufs Abitur bereitete er uns gewissenhaft und genau vor. Wir wußten, ein jeder würde seine Prüfung bestehen. Er ging ganz auf unsere Kenntnisse ein, gestaltete den Stoff lehrreich und wissenswert, damit wir noch vieles lernten und Freude an der Sprache geweckt werde.
In evangelischer Religion unterrichtete uns Herr Pfarrer Grolman. Er gestaltete mit seinem stets heiteren und fröhlichen Wesen die Stunden vielseitig und vor allem zeitgemäß. Gewissenhaft ging er auf die gesellschaftlichen Veränderungen ein und behandelte behutsam aufkommende Probleme. Dieser Unterricht fand guten Anklang und gab uns manches Positive für den weiteren Lebensweg mit.
In katholischer Religion erteilte Pastor Sahner Unterricht. Wie ich später erfuhr, knüpfte man bei dem Beginn der „dreißiger Jahre“ an, so als wäre die Zeit von damals stehengeblieben. Eines Tages herrschte eine große Aufregung nach einer Religionsstunde. In der langen Pause wurde heftig über das soeben behandelte Thema gestritten. Der Lehrer habe gesagt, die Schüler sollten sich im späteren Leben für solche Berufe entscheiden, wo sie Macht, Einfluß und Geltung ausüben könnten, um so am besten im Sinne der katholischen Kirche zu wirken. Dann sei es ihnen auch möglich, Gleichgesinnte heranzuziehen und zu fördern. Einige hatten geantwortet, diese Ansichten wollten sie nicht vertreten, da sie Andersgläubigen, insbesondere Protestanten gegenüber, höchst ungerecht sei. Auch möchten sie den Beruf wählen, zu dem man sich, wörtlich genommen, berufen fühle.
Ein besonderer Abschnitt muß noch der Schulspeisung gewidmet werden. Unsere Schule wurde alsbald Tag für Tag mit einer kräftigen und nahrhaften Speise versorgt. Diese wohltätigen Spenden kamen vom Ausland, teilweise von den Quäkern aus Amerika, den Schweden und Schweizern und ein zuverlässiges Unternehmen lieferte sie in großen Behältern zur Mittagszeit an. Im Hof stellten wir uns unter Aufsicht eines Lehrers an, jeder erhielt einen kräftigen Schlag (eine große Schöpfkelle voll) essen in seinen mitgebrachten Teller oder ins Eßgeschirr. Dann trollte man zur Seite und aß genüßlich den wohlschmeckenden, oft süßlichen Brei. Nachfassen gab es selten; denn Lehrer und Angestellte mochten auch gerne einen kleinen Happen davon haben! Diese Schulspeisung darf als erster Akt einer humanitären Gesinnung der Siegermächte den notleidenden Kindern und Jugendlichen in Deutschland gegenüber gewertet werden.
Eines Tages wurden einige Schüler unserer Klasse aufgefordert, beim Abladen und Einbringen großer, blecherner Keksdosen aus den USA zu helfen. Keiner ließ sich das zweimal sagen! Fleißig trugen wir die hohen Dosen treppauf ins Lehrerzimmer, wo sie gestapelt und gut aufbewahrt wurden, um sie dann später an alle Schüler zu verteilen. Aber irgendwie fand eine der vielen Keksdosen nicht den rechten Weg und landete, welch ein Wunder! in einer kaum einsehbaren Ecke unserer Klasse. Während des Unterrichts wanderten Kekshäufchen um Kekshäufchen zu jedem einzelnen Schüler; es wurde gerecht verteilt! Studienrat Vennebusch blickte mehrmals verwundert und leicht irritiert in der Klasse umher, vermochte aber trotz einer gewissen Unruhe nichts zu entdecken, während wir seelenruhig die Keksbrocken genüßlich, aber dennoch kaum merkbar, mampften. Gegen Ende der Stunde kam unser Hausmeister Schwanewibus herein und brachte der Klasse eine halbvolle Keksdose zur Belohnung dafür, daß wir so rührig und zuverlässig die Packungen hereingebracht hatten. Die Backware wurde nunmehr regulär verteilt, einige Stücke erhielt sogar Herr Vennebusch spendiert, worüber er sich sehr gerührt zeigte. Wir selber aber fühlten uns durch unser gieriges Benehmen arg beschämt.
Vor mir liegt ein kleiner Stundenplan, den ich damals stets bei mir in der Jackentasche trug. So sah die Stundentafel aus:
Statt Englisch gab es für einige Schüler Französisch. Änderungen mußten, allerdings in geringem Maße, zeitweilig erfolgen. Raum- und Lehrermangel waren wohl die Hauptsache dafür. Auf jeden Fall bemühte sich die Schulleitung redlich, einen ausgeglichenen für uns angenehmen Plan zu gestalten. Zudem währte jede Unterrichtsstunde nur 40 Minuten.
Eine einzige große Pause gab es. Sie dauerte allerdings eine halbe Stunde. Sie reichte nicht nur zur Erholung und Bewegung der steifen Glieder aus, sondern man konnte sich in Ruhe zur Schulspeisung anstellen und gemächlich das kalorienreiche Mahl verzehren. Beim Hausmeister gab es keine Getränke zu kaufen. Wer Durst hatte, ging an die Wasserleitung, drehte einen der Hähne auf und trank aus der Hand oder einem Metallbecher. Ein Getränk zu bezahlen, erschien den meisten ein unnötiger Luxus; Milch oder Kakao gab es nur auf Lebensmittelkarten, vor allem für Kleinkinder.
Eine einzige große Pause gab es. Sie dauerte allerdings eine halbe Stunde. Sie reichte nicht nur zur Erholung und Bewegung der steifen Glieder aus, sondern man konnte sich in Ruhe zur Schulspeisung anstellen und gemächlich das kalorienreiche Mahl verzehren. Beim Hausmeister gab es keine Getränke zu kaufen. Wer Durst hatte, ging an die Wasserleitung, drehte einen der Hähne auf und trank aus der Hand oder einem Metallbecher. Ein Getränk zu bezahlen, erschien den meisten ein unnötiger Luxus; Milch oder Kakao gab es nur auf Lebensmittelkarten, vor allem für Kleinkinder.
Mancher Lehrer brachte in seiner alten und abgewetzten Aktentasche Butterbrote mit, die in mehrfach benutztem Pergamentpapier gewickelt waren. Die Thermoskanne, mit Muckefuck (Malzkaffee) oder Pfefferminztee gefüllt, stand auf dem Pult. Dann und wann genehmigte er sich einen Erfrischungstrunk während des Unterrichts. - Irgendwelchen Unfug den Lehrern gegenüber gab es nur in harmlosester Art. Während der Pausen wurden die Klassenzimmer selten abgeschlossen; es verschwand nichts! Wir kannten alle den Film „Die Feuerzangenbowle“ mit Heinz Rühmann als Hauptdarsteller, doch wäre niemand auf den Gedanken gekommen, Streiche dieser Art auszuführen; unsereiner war schließlich froh, daß die Schule ihre Pforten geöffnet hatte und ein geregelter Unterricht stattfand.
Tag für Tag verging der Schulalltag mit Unterricht, Klassenarbeiten und mündlichen Prüfungen. Da gab es ein aufsehenerregendes Ereignis, als drei besonders kluge und wagemutige Schüler kurzerhand nach Göttingen an die Universität gefahren waren und dort ihr Abitur ablegten. Am Gymnasium in Buer meldeten sie sich darauf hin ab. Sie waren eben helle und hatten das Gras wachsen hören! Wenig später fanden sich zwei Nachahmer, die jedoch ergebnislos zurückkehrten und die Schule weiterhin besuchten. Man munkelte, einer habe die Prüfung nicht bestanden und der andere sei wegen Mogelei weggeschickt worden. Letzterer behauptete aber, er habe in Göttingen das Abi nur mit „ausreichend“ bestanden, und das genüge ihm nicht. Nunmehr strebe er hier „gut“ an. Durch diese Vorgänge aufgeschreckt, kam bald der Bescheid, daß auch an unserer Schule das Abitur in drei Etappen abgelegt werden könne. Zum ersten Termin meldeten sich zwei Schüler, zum zweiten etwa zehn. Alle bestanden die Prüfungen weitgehend mit vielen guten Noten!
Ein Schüler ging freiwillig, da die von ihm gewünschte Sprachkombination Französisch und englisch nicht zulässig war, in „Latein“ ein „mangelhaft“ oder gar ein „ungenügend“ drohte. Ein anderer trat von sich aus zurück, um die Klasse zu wiederholen. Schließlich verließen zwei Schüler das Gymnasium, da sie ihr im Krieg begonnenes Studium fortsetzen durften; für beide fürwahr eine frohe Botschaft! Wir übrigen Schüler gingen auf Nummer sicher und blieben bis zum Ende des Förderkursus an der Schule, zumal die weitere Zukunft oft noch ungewiß war.
Nach der Schule oder auch an manchem Nachmittag gingen wir über die Hochstraße, schauten uns die wenigen und sehr armseligen auslagen an, oft durch kleine Fensterscheiben, die in die Holzverschalung eingelassen waren. Denn noch längst waren die durch den Krieg beschädigten und zersplitterten großen Glasscheiben noch nicht durch neue ersetzt. Man hatte wohl Reichsmark und von der Besatzungsmacht gedrucktes alliiertes Papiergeld, doch ohne Bezugsscheine gab es kaum etwas zu kaufen. Immerhin gab die italienische Eisdiele Wassereis, mit Geschmacks-, Farb- und Süßstoffen zugesetzt, an ihre Kunden aus. Im Café Halbeisen wartete die Bedienung mit Malzkaffee, Sprudel oder Fanta auf, wenn man sich an einen hübschen Tisch setzte. Für manche von uns hatte es mit dem Café Halbeisen eine besondere Bewandtnis, da vor dem 2. Weltkrieg einer der Söhne des Inhabers in unserer Klasse ein wunderbarer Mitschüler war. Leider blieben er und sein Bruder gegen Kriegsende in Ungarn beziehungsweise auf dem Balkan vermißt und galten später als gefallen. Die Trauer der Eltern darüber ist kaum zu beschreiben! – Das Café galt nach dem Krieg noch lange Zeit für uns als wöchentlicher Treffpunkt, bis Studium oder Beruf längere Pausen erzwangen. Manch einer traf sich auch mit einem Mädchen, einer Freundin. Eine Verlobung ist mir noch im Sinn geblieben, aber sie brach später auseinander.
Wenn zwei Stunden frei waren gingen wir manchmal ins Amtsgericht und schauten der interessanten Verhandlung zu.
Viele von uns trugen tiefblau gefärbte Uniformkleidung, denn für den „Bezugschein für Spinnstoffe“ gab es nicht allzu viele Punkte, für die man sich selten nur das Notwendigste wie Strümpfe, ein Handtuch oder ein Hemd einfacher Güte kaufen konnte.
Anfang September wurden wir aufgefordert, ein Schreiben mit ausführlichem Bildungs- und Lebenslauf an den Prüfungsausschuß zu richten. Es sah so aus:
Oberschule für Jungen –Förderkurs
Meldung des Kursteilnehmers . . . . . . . . zur Reifeprüfung
An den Prüfungsausschuß!
Ich bitte de Prüfungsausschuß, mich zur Reifeprüfung an der Oberschule Für Jungen in Gelsenkirchen-Buer im Dezember 1946 zulassen zu wollen.
(Unterschrift)
Im allgemeinen umfaßte der Lebenslauf etwa 3 bis 6 Seiten. Der meinige liegt mir noch im Entwurf von knapp 5 handgeschriebenen Seiten vor. Heute schüttle ich den Kopf darüber, was so alles geschrieben wurde! Aber der Lebenslauf sollte sehr ausführlich sein. Mein Lebenslauf ist vom 10.9.1946 datiert.
Anfang Dezember des Jahres 1946 war es soweit. Die schriftlichen Arbeiten waren in Deutsch, Mathematik, Latein, Englisch oder Französisch aufgegeben. 4 oder 5 Tage reichten dazu aus. Für das Fach Deutsch standen jedem zwei Themen wahlweise zur Verfügung. Das eine war eine Charakteristik der Brüder Piccolomini aus Schillers „Wallenstein“, das andere ist mir nicht mehr geläufig.
In Mathematik hatten die Schüler die erste Aufgabe richtig geahnt. Sie beinhaltete eine allgemeine Abhandlung der sphärischen Trigonometrie, und soll sogar von manchen fix und fertig geschrieben hervorgeholt worden sein. Zwei weitere rechnerische aufgaben waren noch zu lösen. Papier war damals knapp, daß es ein jeder selbst besorgen und mitbringen mußte. In Latein hatte „Ali“ Kortenkamp zuvor einige ganz seltene Worte durchgenommen, die teilweise in der Arbeit vorkommen sollten. Er meinte es habe keinen Zweck, in besonderen Fundstellenwörterbüchern der lateinischen Sprache nachzuschauen, um so den Text der Abiturarbeit zu erfahren. Wir fänden ganz gewiß die Quelle nicht. Zu Anfang seiner Lehrzeit sei das einigen Schülern noch gelungen, aber er habe daraus gelernt. Dennoch durchforsteten einige von uns, die sich irgendwie die Fundbücher ausgeliehen hatten, Seite um Seite, aber wahrhaftig ohne jeden Erfolg. In der folgenden Woche erfuhren wir dann den Schrifttitel und Autor (aus alten Zeiten). Zwischendurch – uns waren etwa 4 Unterrichtsstunden (= 3 Vollstunden) an Arbeitszeit vorgegeben – durfte man austreten gehen, aber stets einer nach dem anderen, damit keinesfalls ein reger Gedankenaustausch stattfände. Doch im WC standen zwei gute Lateinschüler, die aber keine Schule besuchten, bereit. Rasch vermochten sie einige Wörter auswendig oder mit Hilfe eines Wörterbuches zu übersetzen. Wer später eintraf, wurde sogleich mit den schon mehrfach nachgefragten Wörtern oder ganzen Sätzen begrüßt. Ein Schüler schaffte es zu Anfang und gegen Ende dorthin zu gelangen und dabei die unklaren Sätze fertig übersetzt zu erhalten. Danach meinte „Ali“: „Nun ist es aber gut! Die letzte halbe Stunde wird es auch ohne gehen.“ Er schien wohl zu ahnen, was sich da abgespielt hatte.
An die Französischarbeit vermag ich mich nicht mehr zu erinnern, leider.
Mit der Korrektur der vielen Arbeiten waren die Lehrer mehrere Tage voll beschäftigt. Dennoch lief der Unterricht, nunmehr gemächlich, weiter. An Hand einiger gezielter Fragen merkten wir, in welchem Fach die Note noch fraglich war, und man deshalb mutmaßlich ins Mündliche käme. „Ali“ meinte ernstlich, es ginge nicht an, nun nichts mehr zu tun, und Teckel fuhr umher: „Nun haben der und der die Arbeit besser geschrieben, als ich erwartet habe. Jetzt müßt ihr in die mündliche Prüfung!“ Das war uns recht, ihm aber gar nicht. Auf unsere intensive Nachfragerei erklärte er schließlich, die Lehrerschaft hielte es so, daß nahezu keiner eine 1, zwei eine 2, mehrere eine 3 und der Rest eine 4 beim Abitur erhielten. Nun müsse er von dieser Aufteilung abweichen! Allerdings sähe es die Schulleitung nicht gerne, wenn ein Prüfling durchfiele. Dann nämlich empfehle man demjenigen rechtzeitig, sofern noch möglich, „freiwillig“ vom Abitur zurückzutreten und die Prüfung gut vorbereitet im nächsten Jahr zu wiederholen. Mit Fleiß und Hilfe der Lehrer ginge die erneute Prüfung dann glatt über die Bühne. Wir hielten ihm darauf entgegen, dieser Förderkurs nach dem Krieg sei eine Ausnahmesituation, die doch zu berücksichtigen sei. Außerdem hätten sich vor allem solche Schüler gemeldet, die unbedingt ein Vollstudium ergreifen wollten und deshalb über dem üblichen Leistungsdurchschnitt lägen. Somit könnten in besonderen Fällen eine 1 und mehrere 2en gegeben werden. Der Einwand verhallte ungehört. Jahre später gestanden dann einige Lehrer ein, sie hätten uns damals zu streng benotet, weshalb wir im Vergleich zu Schülern anderer Gymnasien länger auf den Studienbeginn – er richtete sich nach dem Notendurchschnitt – warten mußten.
Endlich war es soweit. Der Prüfungstermin war festgesetzt. Frühmorgens versammelten wir uns im Raum der Parallelklasse und warteten geduldig auf das, was nun geschähe. Hoher Besuch vom Schulkollogium war angesagt; Hüte, Mäntel und Taschen wurden abgelegt. Da hieß es: „Antreten in der Klasse, der Herr Oberschulrat ist eingetroffen!“ Der neue Oberschulrat, Herr Bruckmann aus Münster, begrüßte uns und hielt eine zündende Rede. Wir lauschten gespannt seinen eindrucksvollen Worten. So erklärte er uns, daß die Reihenfolge der Prüfungen keine Aussage über den Leistungsstand eines jeden bedeute. Schließlich sprach er von seinem KZ-Aufenthalt; wie sehr die Menschen dort gelitten hätten. Dann zog er – in Worten – gegen Hitler und das verbrecherische Regime los und verurteilte die 12 Jahre dieser Herrschaft und Tyrannei. Es folgten weitere Ausführungen dieser Art. So dramatisch und theatralisch diese Ausführungen auch waren, wir bemühten uns, ernst zu bleiben und verkniffen ein Lächeln. Schließlich waren wir froh, den Krieg halbwegs glimpflich überstanden zu haben. Obwohl vieles in Trümmern lag, wollten wir nunmehr unbekümmert in die Zukunft blicken, mit Tatkraft studieren und sodann aufbauend einen Beruf ergreifen. Wir schauten vorwärts und weniger zurück.
Zeit- und Prüfungseinteilung wurden verlesen. Die ersten Kandidaten gingen in den Vorbereitungsraum, mit ihnen die Lehrer als Betreuungs- und Aufsichtspersonen. Da einige noch Stunden Zeit hatten, darunter auch ich, begaben wir uns in die Stadt, um Ablenkung bemüht. Vorsichtshalber kehrten wir von Zeit zu Zeit zurück und kamen gerade im rechten Augenblick; die bisherigen Prüfungen waren rascher, als erwartet, verlaufen. Für einige war das erste Prüfungsfach Mathematik. Wir wußten, wir werden auf eine bessere Note geprüft, wegen der guten schriftlichen Arbeiten. Im Vorbereitungsraum erhielten wir das Thema „Zugeordnete Durchmesser“. Eifrig wurde nachgeschlagen, geschrieben und notiert. Einer nach dem anderen wurde ins Prüfungszimmer gerufen, befragt und hatte an der Tafel zu zeichnen und zu erläutern. Gefragt wurde unter anderem nach der Napierschen Regel und nach mathematischen Problemen auf dem Gebiet des Sternwesen. Es gab keine Schwierigkeiten, zumal uns die beisitzenden Lehrer – soweit wie möglich – unterstützten oder zur Lösung hinführten! In Deutsch war Schillers „Wallenstein“ an der Reihe. Es folgte „Das zweite Gesicht“ von Walter von Molo. Nun griff Herr Bruckmann ein und wollte einiges über Goethe und Bismarck wissen. Meine Antworten waren wohl zufriedenstellend. In Latein erfolgte wider Erwarten für mich keine Prüfung, aber in Französisch. In der Vorbereitung half uns Frau Dosedal reichlich beim Übersetzen, so daß wir ob ihrer Kenntnisse nur so staunten! In der Prüfung hieß es: laut lesen, übersetzen, nacherzählen; dann erfolgten grammatikalische Fragen.
Schließlich ließ Oberschulrat Bruckmann noch einige Zeilen übersetzen und gab sich damit zufrieden. Nun waren für mich alle Prüfungen beendet und bestanden; gottlob! Jüppi, Ötte, Dosedal und Teckel kamen auf mich zu, schüttelten mir die Hände und sprachen ihre Glückwünsche aus. So viel mitfühlende Freude hatte ich keineswegs erwartet! Anderen Mitschülern erging es ebenso.
Am nächsten Tag schauten wir nochmals in die Schule, fühlten und litten mit denen, die noch vor ihren letzten Prüfungen standen und erteilten ihnen wohlgemeinte Ratschläge.
Herr Bruckmann war nicht zugegen, vermutlich zu einer anderen Schule weitergereist, um dort die Anwesenden mit seinem Besuch zu beglücken und die Oberaufsicht pflichtgemäß zu führen. Schließlich packten wir Bücher, Schreibzeug und Hefte in unsere Mappen, gingen sodann frohgemut und stolz erhobenen Hauptes nach Hause.
Am letzten Schultag waren wir zum Zeugnisempfang in die Schule bestellt. Jeder holte seinen besten Anzug hervor und machte sich fein; notfalls mußten Bruder oder Freund einen guten Anzug leihen. Da ich meine Eltern mit dem Zeugnis überraschen wollte, verriet ich noch nichts. Dennoch ahnte meine Mutter etwas, da ich so gut gekleidet und später als üblich zur Schule fuhr.
Am 19. November empfingen wir nach einer kurzen und würdigen Ansprache des Schulleiters aus seiner Hand das Zeugnis der Reife. Dazu beglückwünschte uns die Lehrerschaft. Meines Wissens haben alle Mitschüler das Abitur bestanden. Wir verabschiedeten uns. Wer Zeit und Lust hatte, setzte sich ins Café Halbeisen, um so einen kleinen Abschied zu feiern.
Wie vordem beschlossen, veranstalteten wir ein Abschlußfest im Goldberghaus und später in der Waldschenke einen Kommers. Im alten Vorkriegsklassenverband haben wir uns sehr oft getroffen. Unser Studienrat Josef Rüdiger weilte regelmäßig, Jahr für Jahr, bis kurz vor seinem Ableben bei unseren Zusammenkünften. Nun wandern wir manchesmal zum Hauptfriedhof in Buer, verharren an seinem Grab, gedenken dort seiner und aller unserer gefallenen oder verstorbenen Klassenkameraden. Auch von anderen Klassenverbänden unseres damaligen Förderkurses ist bekannt, daß sie sich alljährlich treffen.
Schauen wir auf diese 50 Jahre und die Kriegszeit zurück, so danken wir allen Lehrerinnen und Lehrern, daß sie uns fast ein ganzes Jahrzehnt in unserer Schulzeit begleitet und zielstrebig mit viel Sorgfalt und manchem besonderen Wohlverhalten geleitet haben. Manchen Widrigkeiten zum Trotz gelangten wir schließlich zu einem guten und glücklichen Abschluß.
Tag für Tag verging der Schulalltag mit Unterricht, Klassenarbeiten und mündlichen Prüfungen. Da gab es ein aufsehenerregendes Ereignis, als drei besonders kluge und wagemutige Schüler kurzerhand nach Göttingen an die Universität gefahren waren und dort ihr Abitur ablegten. Am Gymnasium in Buer meldeten sie sich darauf hin ab. Sie waren eben helle und hatten das Gras wachsen hören! Wenig später fanden sich zwei Nachahmer, die jedoch ergebnislos zurückkehrten und die Schule weiterhin besuchten. Man munkelte, einer habe die Prüfung nicht bestanden und der andere sei wegen Mogelei weggeschickt worden. Letzterer behauptete aber, er habe in Göttingen das Abi nur mit „ausreichend“ bestanden, und das genüge ihm nicht. Nunmehr strebe er hier „gut“ an. Durch diese Vorgänge aufgeschreckt, kam bald der Bescheid, daß auch an unserer Schule das Abitur in drei Etappen abgelegt werden könne. Zum ersten Termin meldeten sich zwei Schüler, zum zweiten etwa zehn. Alle bestanden die Prüfungen weitgehend mit vielen guten Noten!
Ein Schüler ging freiwillig, da die von ihm gewünschte Sprachkombination Französisch und englisch nicht zulässig war, in „Latein“ ein „mangelhaft“ oder gar ein „ungenügend“ drohte. Ein anderer trat von sich aus zurück, um die Klasse zu wiederholen. Schließlich verließen zwei Schüler das Gymnasium, da sie ihr im Krieg begonnenes Studium fortsetzen durften; für beide fürwahr eine frohe Botschaft! Wir übrigen Schüler gingen auf Nummer sicher und blieben bis zum Ende des Förderkursus an der Schule, zumal die weitere Zukunft oft noch ungewiß war.
Nach der Schule oder auch an manchem Nachmittag gingen wir über die Hochstraße, schauten uns die wenigen und sehr armseligen auslagen an, oft durch kleine Fensterscheiben, die in die Holzverschalung eingelassen waren. Denn noch längst waren die durch den Krieg beschädigten und zersplitterten großen Glasscheiben noch nicht durch neue ersetzt. Man hatte wohl Reichsmark und von der Besatzungsmacht gedrucktes alliiertes Papiergeld, doch ohne Bezugsscheine gab es kaum etwas zu kaufen. Immerhin gab die italienische Eisdiele Wassereis, mit Geschmacks-, Farb- und Süßstoffen zugesetzt, an ihre Kunden aus. Im Café Halbeisen wartete die Bedienung mit Malzkaffee, Sprudel oder Fanta auf, wenn man sich an einen hübschen Tisch setzte. Für manche von uns hatte es mit dem Café Halbeisen eine besondere Bewandtnis, da vor dem 2. Weltkrieg einer der Söhne des Inhabers in unserer Klasse ein wunderbarer Mitschüler war. Leider blieben er und sein Bruder gegen Kriegsende in Ungarn beziehungsweise auf dem Balkan vermißt und galten später als gefallen. Die Trauer der Eltern darüber ist kaum zu beschreiben! – Das Café galt nach dem Krieg noch lange Zeit für uns als wöchentlicher Treffpunkt, bis Studium oder Beruf längere Pausen erzwangen. Manch einer traf sich auch mit einem Mädchen, einer Freundin. Eine Verlobung ist mir noch im Sinn geblieben, aber sie brach später auseinander.
Wenn zwei Stunden frei waren gingen wir manchmal ins Amtsgericht und schauten der interessanten Verhandlung zu.
Viele von uns trugen tiefblau gefärbte Uniformkleidung, denn für den „Bezugschein für Spinnstoffe“ gab es nicht allzu viele Punkte, für die man sich selten nur das Notwendigste wie Strümpfe, ein Handtuch oder ein Hemd einfacher Güte kaufen konnte.
Anfang September wurden wir aufgefordert, ein Schreiben mit ausführlichem Bildungs- und Lebenslauf an den Prüfungsausschuß zu richten. Es sah so aus:
Oberschule für Jungen –Förderkurs
Meldung des Kursteilnehmers . . . . . . . . zur Reifeprüfung
An den Prüfungsausschuß!
Ich bitte de Prüfungsausschuß, mich zur Reifeprüfung an der Oberschule Für Jungen in Gelsenkirchen-Buer im Dezember 1946 zulassen zu wollen.
(Unterschrift)
Im allgemeinen umfaßte der Lebenslauf etwa 3 bis 6 Seiten. Der meinige liegt mir noch im Entwurf von knapp 5 handgeschriebenen Seiten vor. Heute schüttle ich den Kopf darüber, was so alles geschrieben wurde! Aber der Lebenslauf sollte sehr ausführlich sein. Mein Lebenslauf ist vom 10.9.1946 datiert.
Anfang Dezember des Jahres 1946 war es soweit. Die schriftlichen Arbeiten waren in Deutsch, Mathematik, Latein, Englisch oder Französisch aufgegeben. 4 oder 5 Tage reichten dazu aus. Für das Fach Deutsch standen jedem zwei Themen wahlweise zur Verfügung. Das eine war eine Charakteristik der Brüder Piccolomini aus Schillers „Wallenstein“, das andere ist mir nicht mehr geläufig.
In Mathematik hatten die Schüler die erste Aufgabe richtig geahnt. Sie beinhaltete eine allgemeine Abhandlung der sphärischen Trigonometrie, und soll sogar von manchen fix und fertig geschrieben hervorgeholt worden sein. Zwei weitere rechnerische aufgaben waren noch zu lösen. Papier war damals knapp, daß es ein jeder selbst besorgen und mitbringen mußte. In Latein hatte „Ali“ Kortenkamp zuvor einige ganz seltene Worte durchgenommen, die teilweise in der Arbeit vorkommen sollten. Er meinte es habe keinen Zweck, in besonderen Fundstellenwörterbüchern der lateinischen Sprache nachzuschauen, um so den Text der Abiturarbeit zu erfahren. Wir fänden ganz gewiß die Quelle nicht. Zu Anfang seiner Lehrzeit sei das einigen Schülern noch gelungen, aber er habe daraus gelernt. Dennoch durchforsteten einige von uns, die sich irgendwie die Fundbücher ausgeliehen hatten, Seite um Seite, aber wahrhaftig ohne jeden Erfolg. In der folgenden Woche erfuhren wir dann den Schrifttitel und Autor (aus alten Zeiten). Zwischendurch – uns waren etwa 4 Unterrichtsstunden (= 3 Vollstunden) an Arbeitszeit vorgegeben – durfte man austreten gehen, aber stets einer nach dem anderen, damit keinesfalls ein reger Gedankenaustausch stattfände. Doch im WC standen zwei gute Lateinschüler, die aber keine Schule besuchten, bereit. Rasch vermochten sie einige Wörter auswendig oder mit Hilfe eines Wörterbuches zu übersetzen. Wer später eintraf, wurde sogleich mit den schon mehrfach nachgefragten Wörtern oder ganzen Sätzen begrüßt. Ein Schüler schaffte es zu Anfang und gegen Ende dorthin zu gelangen und dabei die unklaren Sätze fertig übersetzt zu erhalten. Danach meinte „Ali“: „Nun ist es aber gut! Die letzte halbe Stunde wird es auch ohne gehen.“ Er schien wohl zu ahnen, was sich da abgespielt hatte.
An die Französischarbeit vermag ich mich nicht mehr zu erinnern, leider.
Mit der Korrektur der vielen Arbeiten waren die Lehrer mehrere Tage voll beschäftigt. Dennoch lief der Unterricht, nunmehr gemächlich, weiter. An Hand einiger gezielter Fragen merkten wir, in welchem Fach die Note noch fraglich war, und man deshalb mutmaßlich ins Mündliche käme. „Ali“ meinte ernstlich, es ginge nicht an, nun nichts mehr zu tun, und Teckel fuhr umher: „Nun haben der und der die Arbeit besser geschrieben, als ich erwartet habe. Jetzt müßt ihr in die mündliche Prüfung!“ Das war uns recht, ihm aber gar nicht. Auf unsere intensive Nachfragerei erklärte er schließlich, die Lehrerschaft hielte es so, daß nahezu keiner eine 1, zwei eine 2, mehrere eine 3 und der Rest eine 4 beim Abitur erhielten. Nun müsse er von dieser Aufteilung abweichen! Allerdings sähe es die Schulleitung nicht gerne, wenn ein Prüfling durchfiele. Dann nämlich empfehle man demjenigen rechtzeitig, sofern noch möglich, „freiwillig“ vom Abitur zurückzutreten und die Prüfung gut vorbereitet im nächsten Jahr zu wiederholen. Mit Fleiß und Hilfe der Lehrer ginge die erneute Prüfung dann glatt über die Bühne. Wir hielten ihm darauf entgegen, dieser Förderkurs nach dem Krieg sei eine Ausnahmesituation, die doch zu berücksichtigen sei. Außerdem hätten sich vor allem solche Schüler gemeldet, die unbedingt ein Vollstudium ergreifen wollten und deshalb über dem üblichen Leistungsdurchschnitt lägen. Somit könnten in besonderen Fällen eine 1 und mehrere 2en gegeben werden. Der Einwand verhallte ungehört. Jahre später gestanden dann einige Lehrer ein, sie hätten uns damals zu streng benotet, weshalb wir im Vergleich zu Schülern anderer Gymnasien länger auf den Studienbeginn – er richtete sich nach dem Notendurchschnitt – warten mußten.
Endlich war es soweit. Der Prüfungstermin war festgesetzt. Frühmorgens versammelten wir uns im Raum der Parallelklasse und warteten geduldig auf das, was nun geschähe. Hoher Besuch vom Schulkollogium war angesagt; Hüte, Mäntel und Taschen wurden abgelegt. Da hieß es: „Antreten in der Klasse, der Herr Oberschulrat ist eingetroffen!“ Der neue Oberschulrat, Herr Bruckmann aus Münster, begrüßte uns und hielt eine zündende Rede. Wir lauschten gespannt seinen eindrucksvollen Worten. So erklärte er uns, daß die Reihenfolge der Prüfungen keine Aussage über den Leistungsstand eines jeden bedeute. Schließlich sprach er von seinem KZ-Aufenthalt; wie sehr die Menschen dort gelitten hätten. Dann zog er – in Worten – gegen Hitler und das verbrecherische Regime los und verurteilte die 12 Jahre dieser Herrschaft und Tyrannei. Es folgten weitere Ausführungen dieser Art. So dramatisch und theatralisch diese Ausführungen auch waren, wir bemühten uns, ernst zu bleiben und verkniffen ein Lächeln. Schließlich waren wir froh, den Krieg halbwegs glimpflich überstanden zu haben. Obwohl vieles in Trümmern lag, wollten wir nunmehr unbekümmert in die Zukunft blicken, mit Tatkraft studieren und sodann aufbauend einen Beruf ergreifen. Wir schauten vorwärts und weniger zurück.
Zeit- und Prüfungseinteilung wurden verlesen. Die ersten Kandidaten gingen in den Vorbereitungsraum, mit ihnen die Lehrer als Betreuungs- und Aufsichtspersonen. Da einige noch Stunden Zeit hatten, darunter auch ich, begaben wir uns in die Stadt, um Ablenkung bemüht. Vorsichtshalber kehrten wir von Zeit zu Zeit zurück und kamen gerade im rechten Augenblick; die bisherigen Prüfungen waren rascher, als erwartet, verlaufen. Für einige war das erste Prüfungsfach Mathematik. Wir wußten, wir werden auf eine bessere Note geprüft, wegen der guten schriftlichen Arbeiten. Im Vorbereitungsraum erhielten wir das Thema „Zugeordnete Durchmesser“. Eifrig wurde nachgeschlagen, geschrieben und notiert. Einer nach dem anderen wurde ins Prüfungszimmer gerufen, befragt und hatte an der Tafel zu zeichnen und zu erläutern. Gefragt wurde unter anderem nach der Napierschen Regel und nach mathematischen Problemen auf dem Gebiet des Sternwesen. Es gab keine Schwierigkeiten, zumal uns die beisitzenden Lehrer – soweit wie möglich – unterstützten oder zur Lösung hinführten! In Deutsch war Schillers „Wallenstein“ an der Reihe. Es folgte „Das zweite Gesicht“ von Walter von Molo. Nun griff Herr Bruckmann ein und wollte einiges über Goethe und Bismarck wissen. Meine Antworten waren wohl zufriedenstellend. In Latein erfolgte wider Erwarten für mich keine Prüfung, aber in Französisch. In der Vorbereitung half uns Frau Dosedal reichlich beim Übersetzen, so daß wir ob ihrer Kenntnisse nur so staunten! In der Prüfung hieß es: laut lesen, übersetzen, nacherzählen; dann erfolgten grammatikalische Fragen.
Schließlich ließ Oberschulrat Bruckmann noch einige Zeilen übersetzen und gab sich damit zufrieden. Nun waren für mich alle Prüfungen beendet und bestanden; gottlob! Jüppi, Ötte, Dosedal und Teckel kamen auf mich zu, schüttelten mir die Hände und sprachen ihre Glückwünsche aus. So viel mitfühlende Freude hatte ich keineswegs erwartet! Anderen Mitschülern erging es ebenso.
Am nächsten Tag schauten wir nochmals in die Schule, fühlten und litten mit denen, die noch vor ihren letzten Prüfungen standen und erteilten ihnen wohlgemeinte Ratschläge.
Herr Bruckmann war nicht zugegen, vermutlich zu einer anderen Schule weitergereist, um dort die Anwesenden mit seinem Besuch zu beglücken und die Oberaufsicht pflichtgemäß zu führen. Schließlich packten wir Bücher, Schreibzeug und Hefte in unsere Mappen, gingen sodann frohgemut und stolz erhobenen Hauptes nach Hause.
Am letzten Schultag waren wir zum Zeugnisempfang in die Schule bestellt. Jeder holte seinen besten Anzug hervor und machte sich fein; notfalls mußten Bruder oder Freund einen guten Anzug leihen. Da ich meine Eltern mit dem Zeugnis überraschen wollte, verriet ich noch nichts. Dennoch ahnte meine Mutter etwas, da ich so gut gekleidet und später als üblich zur Schule fuhr.
Am 19. November empfingen wir nach einer kurzen und würdigen Ansprache des Schulleiters aus seiner Hand das Zeugnis der Reife. Dazu beglückwünschte uns die Lehrerschaft. Meines Wissens haben alle Mitschüler das Abitur bestanden. Wir verabschiedeten uns. Wer Zeit und Lust hatte, setzte sich ins Café Halbeisen, um so einen kleinen Abschied zu feiern.
Wie vordem beschlossen, veranstalteten wir ein Abschlußfest im Goldberghaus und später in der Waldschenke einen Kommers. Im alten Vorkriegsklassenverband haben wir uns sehr oft getroffen. Unser Studienrat Josef Rüdiger weilte regelmäßig, Jahr für Jahr, bis kurz vor seinem Ableben bei unseren Zusammenkünften. Nun wandern wir manchesmal zum Hauptfriedhof in Buer, verharren an seinem Grab, gedenken dort seiner und aller unserer gefallenen oder verstorbenen Klassenkameraden. Auch von anderen Klassenverbänden unseres damaligen Förderkurses ist bekannt, daß sie sich alljährlich treffen.
Schauen wir auf diese 50 Jahre und die Kriegszeit zurück, so danken wir allen Lehrerinnen und Lehrern, daß sie uns fast ein ganzes Jahrzehnt in unserer Schulzeit begleitet und zielstrebig mit viel Sorgfalt und manchem besonderen Wohlverhalten geleitet haben. Manchen Widrigkeiten zum Trotz gelangten wir schließlich zu einem guten und glücklichen Abschluß.
Veröffentlicht ... Mai 1996
© Thorsten Migenda 03.12.2017
letzte Überarbeitung: 2019-04-14
letzte Überarbeitung: 2019-04-14