Jahrgang 1926 zum Kriegsabitur 1944
von Hans-Jürgen Migenda
Der Jahrgang 1926 wurde unter keinem guten Stern geboren. Im November 1918 erfolgte der Waffenstillstand des 1.Weltkrieges, im folgenden Jahr der "Friedensvertrag von Versailles“. Gebietsabtretungen, Rheinlandbesetzung, Reparationszahlungen und politische Erpressung. Es kam 1921 zur Ruhrbesetzung durch die Franzosen. Die Inflation bewirkte, daß die Mark auf den billionsten Teil ihres Wertes sank. Der Wohlstand mancher Bürger zerfloß in ein Nichts. Auch die Einführung der Rentenmark 1923 brachte zwar die Währung in Ordnung, aber der Dawes- und Youngplan setzte die Wirtschaft und den Staat so unter Druck, daß sie große Anleihen von Amerika aufnehmen mußten. Die Scheinblüte wurde 1929 durch den Schwarzen Freitag der weltweiten Börse restlos zerstört. Eine große Arbeitslosigkeit setzte ein; 6 Millionen Menschen waren ohne Arbeit. Für viele schwand die Hoffnung auf Besserung. So wurde manche neue Partei gegründet; fast alle versprachen eine Änderung zum Guten hin. Die radikalen Parteien erhielten den größten Zulauf. Als Kinder dieser Zeit wuchsen wir auf und nahmen die Gegebenheiten hin, wie sie so waren.
Jeder von uns entsinnt sich des ersten Schultages. Meist in Begleitung der Mutter ging man voller Erwartung in das so große Schulgebäude. Der neue, freundliche und meist ältere Klassenlehrer stellte sich vor und begrüßte alle recht herzlich. Es begann für wenige Stunden ein freier Unterricht, so dann ein Rundgang durchs Schulgebäude, zu dem Schulhof und besonderen Anlagen, wie Turnhalle, Lehrerzimmer und Schulgarten. Sehr wichtig war die schöne und wohlgefüllte Zuckertüte mit den leckeren Überraschungen! Die Geschwister zu Hause bekamen einen Teil davon ab. Nun hatte ich als aufmerksamer Schuljunge festgestellt, daß bei einigen Mitschülern die Tüte bis zum Überquellen vollgestopft war. Dazu meinte meine Mutter, da trüge oft der Schein; innen seien sie nur mit einfachem Gebäck gefüllt, aber keineswegs mit teureren, wertvollen Süßigkeiten. So brachte der erste Tag viel Neues für jeden. Auch bahnte sich bei manchem schon eine Freundschaft an.- Die Lehrer dieser Zeit unterrichteten nahezu in allen Fächern, so auch in Sport und Gesang. Jedes Jahr wurde ein kleiner Ausflug und eine längere Wanderung unternommen Meist waren es sehenswerte, gut ausgesuchte Ziele, die oft noch heute in Erinnerung sind. Nach 4 Jahren Volksschule wechselten ein Teil in die Ober- und Mittelschulen. Somit zerfiel die Klasseneinheit. Erstmalig war 1936 eine Aufnahmeprüfung für die Oberschule vorgeschrieben; ein gutes Zeugnis genügte nicht mehr. Deutsch, Rechnen und ein weiteres Fach waren vorgeschrieben. Jeder Schüler mühte sich zwei Stunden lang ab. Wenig später verkündete der Prüfungsausschuß, alle haben die Aufgaben gelöst und sind damit in die neue Schule aufgenommen. Am nächsten Tag hielt der Schulleiter - festlich im schwarzen Frack gekleidet - eine wohltönende Rede. Ich weiß nur noch, es war an diesem Tage sehr heiß, und wir schwitzten sehr. Zudem standen alle in der brütenden Sonne. Neu für uns waren die zahlreichen Lehrer und ebenso die vielen Fächer. Auch gab es mehrere Fachräume, in die in der Pause zu wechseln war. Die Schülerzahl in den Klassen betrug etwa die Hälfte der in der Volksschule; früher 48, jetzt 24 Jungen. Da hieß es, mehr aufpassen und mitarbeiten. Kein Zweifel, die Anforderungen waren durchaus höher und die Noten oft niedriger. Als erste Fremdsprache konnte man zwischen Französisch, Latein oder Griechisch wählen. Das war erfreulich, aber bei einem Umzug in eine andere Stadt zuweilen hinderlich, da das entsprechende Sprachfach nicht angeboten wurde. Ein Jahr später, also 1937, wurde von der obersten Regierungsstelle einheitlich Englisch als erste Sprache festgelegt, da sie die Weltsprache war.
Im Lauf der Jahre bahnten sich einige Freundschaften an, von denen man sagen kann, sie sind zeitlebens von Dauer. - Nach dem ersten (Ober-)Schuljahr trat der eine oder andere zurück, sei es, um die Klasse zu wiederholen oder die Schule zu wechseln. Der Klassenlehrer sollte bis zum Abitur den Schülerverband führen, so war es vorgesehen. Gleiches galt für die Fachlehrer im Rahmen des Möglichen. –
Für uns Geschwister gab es 1938 einen tiefen Einschnitt. Wir zogen von Sachsen-Anhalt nach Gladbeck in Westfalen. Dadurch mußte ich nach Buer aus sprachlichen Gründen fast tagtäglich fahren. Das galt auch für andere Schüler aus Dorsten, Kirchhellen und Horst. Den Anschluß in der Klasse zu finden, war daher oft schwierig.
Politisch hatte sich im Januar 1933 ein einschneidender Wandel vollzogen. Viele Menschen sahen nur noch eine Rettung der elenden. wirtschaftlichen Lage, indem sie vermeinten, sich für "rot" oder "braun" entscheiden zu müssen. So kam nach der Wahl der Nationalsozialismus zur Macht. An den großen abendlichen Fackelumzug erinnere ich mich noch deutlich. Man sah nur ernste Gesichter, denn jeder fragte sich, was wird kommen, was wird politisch geschehen? Doch das Ausland verhielt sich abwartend und zunächst ruhig. Die Arbeitslosigkeit nahm, durch verschiedene Maßnahmen bedingt, rasch ab. Im. Lande selbst änderte sich so manches. Ein wirtschaftlicher Aufschwung erfolgte, aber auch eine Wiederaufrüstung. In Spanien tobte ab 1936 ein Bürgerkrieg, und gar manch einer befürchtete, es könne daraus ein neuer Weltkrieg entstehen. Noch waren die wahren Kriegspläne nicht so weit gediehen. Aber es brodelte an manchen Stellen. Da suchte man in den 30-er Jahren im östlichen Grenzgebiet, auch in dortigen Schulen, händeringend Land, Haus, Hof und Wohnungen für vertriebene und verfolgte Deutsche aus Westpreußen und Oberschlesien. Bis Kriegsausbruch waren das über 1 Millionen Menschen. Dann ließ sich die Kriegsfurie nicht mehr aufhalten. September 1939 kam es zum 2. Weltkrieg. Junge Lehrer, Väter und ausgebildete Soldaten wurden eingezogen. Damit waren wir Schüler in den Werdegang schon eingebunden. Es kamen die ersten Gefallenenmeldungen in der Schule, Familie und Nachbarschaft. Menschenverluste durch die Sprengbomben berührten uns stark. In Erinnerung ist geblieben, wie unser Klassenlehrer Josef Rüdiger aus dem Schulzimmer herausgerufen wurde und er tiefbestürzt mit der Nachricht zurückkam, einer seiner Söhne sei in Rußland gefallen. Ebenso traf es manchen Mitschüler, dessen einer, ja sogar zwei Brüder gefallen oder von Partisanen erschlagen worden waren.
Erstmals führte die Schulleitung uns weibliche Lehrkräfte, also Lehrerinnen zu. Sie bewährten sich ausgezeichnet!
Für uns begann 1942 der erste Kriegseinsatz als Hilfsschaffner bei der Straßenbahn; zweimal in der Woche an Nachmittagen. Rückblickend hat das nichts für die Verkehrsbetriebe gebracht. Anfang Februar 1943 wurden wir in eine Gaststätte beordert, wo uns ein HJ-Stammführer zum Einsatz bei der Flak als Luftwaffenhelfer aufforderte. Wir waren zunächst erstaunt, aber bald stellte sich heraus, daß mit der Abstimmung von Partei und HJ etwas schief gelaufen war. Wie dem auch sei, am 15. Februar wanderten wir nach Buer-Hege, wurden hier eingekleidet und mit einem Lastfahrzeug in die benachbarten Stellungen Oberscholven, Polsum und Brassert gebracht. Dort waren die Flaksoldaten wohl- unterrichtet. Sie wiesen uns in die Baracken ein. Eine sechswöchige Ausbildung an Grundlagen, Gerätebedienung und theoretischen Wissen geschah im Schnellverfahren. Dann erfolgte wieder Schulunterricht. Die Lehrer kamen zu uns in die Stellungen, fast täglich. Dabei hatten sie auch in Fächern zu unterrichten, in denen sie nicht ausgebildet waren. Einmal in der Woche fuhren wir nach Buer zur Schule, um dort in Physik und Chemie unterrichtet zu werden. Nur da stand die erforderliche Gerätschaft bereit.
Bei Tagesalarm, er wurde immer häufiger, eilten wir rasch an die Meßgeräte, denn die Bereitschaft für den Ernstfall ging vor. Urlaub oder Ausgang erhielten wir meist großzügig und so konnten die Eltern und Angehörigen besucht werden. Allerdings hatte schon 1942 die Evakuierung von Familien begonnen, soweit sie nicht für die Rüstungsbetriebe oder Versorgung an Ort und Stelle benötigt wurden. - Durch Umgruppierungen in mancher Stellung wurden Luftwaffenhelfer in andere Stellungen versetzt, wobei die Führung eine Aufspaltung der Klasseneinheit nach Möglichkeit vermied. So gelangten Schüler aus Herten zu uns, später ein neuer Schülerjahrgang einer Napola (Nationalpolitische Anstalt). Im März 1944 gab uns die Schule das Abgangszeugnis (Kriegsabitur). Es beinhaltet eine Kürzung der Schulzeit um 1 Jahr. Die meisten von uns zog man zum Reichsarbeitsdienst und wenig später zur Reichswehr ein. Da war man richtiger Soldat und kein Oberhelfer mehr.
Als Luftwaffenhelfer kamen wir im allgemeinen gut miteinander und ebenso mit den Soldaten, den vorgesetzten Offizieren, unseren Lehrern und auch den "Hiwis" (freiwillige Hilfskräfte von russischen Gefangenen) aus.
Leider fiel in diesem Krieg manch einer von uns oder wurde verletzt. Auch eine Gefangenschaft blieb einigen Wenigen nicht erspart.
Kriegsende am 8. Mai 1945. Der Krieg hatte vielerorts ein Chaos hinterlassen; unzählige Tote und Verletzte waren zu beklagen, Ruinen sollten aufgebaut werden, Fabriken wiederhergestellt und Vertriebene eingegliedert werden. Für uns Zurückgekehrte galt es, einen Beruf zu ergreifen, eine Ausbildung zu durchlaufen oder das reguläre Abitur nachzuholen. Von letzterem machte etwa die Hälfte Gebrauch, und so kamen wir Anfang 1946 in dem ehemaligen Museumsgebäude an der Horster Straße wieder zusammen. Abschluß erfolgte in verschiedenen Etappen noch im selben Jahr. Die Hindenburg-Oberschule war gegen Kriegsende teilweise ausgebrannt und der Restflügel sodann durch einen kleinen Fabrikbetrieb belegt. –
Das war ein kurzer Rückblick des Jahrgangs 1926 bis zum Kriegsabitur 1944, liebe Schulfreunde!
Die Sütterlinschreibweise sowie die 1941 neu eingeführte Deutsche Normschrift, die die Sütterlinschrift ablösen sollte. Man beachte bei der Deutschen Normschrift das inzwischen fast vergessene lange "ſ", welches durch das runde (Schluß) "s" verdrängt wurde. Das Blatt stammt aus der Zeit um 1941 - 1942.
Veröffentlicht auf der Internetseite des Max-Planck-Gymnasiums Gelsenkirchen-Buer als Erinnerung einer der ehemaligen Schüler des Gymnasiums.
© Thorsten Migenda 03.12.2017
letzte Überarbeitung: 2019-04-14
letzte Überarbeitung: 2019-04-14