Über die Luftwaffenhelferzeit 1943-1944
von Hans-Jürgen Migenda 1983
Anfang 1942 tobte der 2. Weltkrieg schon dreieinhalb Jahre. Die Wende zu Deutschlands Ungunsten trat mit der Schlacht von Stalingrad (Ende am 2.2.1943) ein. Wollte man den Krieg nicht verloren gelten lassen, so mußten weitere Kräfte mobilisiert werden, um die hohen Verluste an der Front und in der Heimat auszugleichen. So erfolgte am 26.1.1943 die Anordnung über den „Kriegshilfsdiensteinsatz der Jugendlichen“, und am 18.2.1943 rief der Reichspropagandaminister Dr. Goebbels zum „totalen Krieg“ im Berliner Sportpalast auf. All das bedeutete: Alle Jugendliche ab dem 15. Jahre werden erfaßt und gelangen wo nötig zum Kriegseinsatz.
Oberste Heeresleitung und Parteiführung wollten dem Ausland gegenüber nicht zeigen, daß schon Jugendliche mit 15 Jahren Soldat werden sollten. So entschieden sie, daß über die Hitler-Jugend (HJ.) der Dienst an der Waffe zu leisten sei.
Viele Jugendliche waren schon im Hilfsdienst tätig, so als Flakhelfer, Begleiter in der Kinderlandverschickung (KLV.), Melder oder Straßenbahnhilfsschaffner. So kam die Ankündigung in der Schule, daß die Schüler der Klassen 7 und 8 in nächster Zeit als Luftwaffenhelfer (LwH.) bei der Flak eingesetzt würden, nicht völlig überraschend. Wenige Tage später, Anfang Februar, beorderte man uns in die Gaststätte … an der Ecke De la Chevallerie-Straße und …straße zu einer Rede des Bannführers … . Erwartungsvoll saßen wir in dem kleinen Saal und hörten uns die lange Rede an. Was er vom Krieg, dem notwendigen Einsatz aller und den Endsieg erzählte, war nichts neues. Schließlich fragte er, wer sich nun freiwillig als Luftwaffenhelfer melde. Erstaunen allerseits; keine Meldung. Der Bannführer vermochte seine Verwunderung nicht verhehlen und machte sich Luft: Von den Arbeiterkindern hätten sich bestimmt einige sofort gemeldet. Wir wären wohl etwas Besseres und wollten lieber auf der Schulbank sitzen als bei der Flak unseren Kriegsbeitrag zu leisten. – Die darauffolgende Diskussion klärte das Mißverständnis rasch auf. Er wußte nicht, daß wir längst abkommandiert waren. Ein Schüler mit einem Beinleiden, der deswegen vom Dienst befreit war, meldete sich jetzt freiwillig, da er im Klassenverband bleiben wollte.
Am 15. Februar 1943 war es soweit. Wir wurden zu etwa 60 Schülern zum Bataillionsstand in Buer-Hege gebracht, dort eingekleidet und mit Lastwagten zu den 3 Batterien in Scholven-Ulfkotte, Marl-Brasset und … Polsum gefahren. Die LwH der 1. Batterie blieben in Hege. Unser Kommen war überall vorbereitet. In alten Baracken war Platz geschafft oder neue waren erstellt. Teilweise erfolgte noch der letzte Anstrich und die notwendigen Möbel wurden aufgestellt. Batteriechef Oberleutnant Weidemann und der Spieß Oberwachtmeister Dallüge begrüßten uns in Polsum. Ein Betreuungsunteroffizier Hartmann führte uns zu zwei Baracken, die in unmittelbarer Nähe der Meßstände lagen. Dort richteten wir uns mit unseren wenigen Habseligkeiten fürs erste ein.
Leider war unsere Klasse 7b (?), wie auch die anderen Klassen, auf die einzelnen Batterien bei der allzu rasch erfolgten Planung und Vorbereitung aufgeteilt. Versuche, die Klassenverbände doch noch zusammenzuführen, schlugen fehl. Wenige Wochen später kamen noch LwH aus Herten zu uns.
Am ersten Tag wurden wir eingewiesen: Befehlsstand, Baracken der unmittelbar Vorgesetzten, Schreibstube, Küche, Kantine, Sanitätsbaracke, Wache und Heizstofflager wurden uns gezeigt, nicht zu vergessen: Waschraum und Abtritt. Da wir noch nicht einsatzbereit waren, galt für den Fall eines Fliegeralarms, daß wir uns anziehen, jedoch in den Baracken bleiben mußten. In der Nacht ertönte das schrille Klingelzeichen: Alarm. Wir handelten nach Anweisung und warteten weiter ab. Ein Wachhabender schaute bei uns herein und meinte, wir hätten nichts zu befürchten. Mit Tieffliegern sei nicht zu rechnen. Die Maschinen zögen stur auf ihr vorgegebenes Ziel und würfen nur im Notfall Bomben aufs Feld. Hier seien noch keine gefallen. Außerdem schütze der um unsere tiefer liegende Baracken aufgeschüttete Erdwall weitgehend vor Splitter. – Doch zum Schießen kamen die Geschütze diesmal nicht.
Die nächsten Tage begannen nach einem zunächst von der Batterieführung aufgestellten Plan mit Wehr-, Waffen- und Geländeunterricht. Hand in Hand erfolgte damit die praktische Anweisung und Ausbildung an den Geräten, aber auch im Gelände. Man wollte uns im Schnellverfahren zu richtigen und tüchtigen Soldaten erziehen. Dazu kam zweimal wöchentlich ein Schulunterricht. Vieles machte uns Spaß. Da waren hochinteressante technische Geräte, die man recht bald kennenlernen wollte. Nur die Geländeübungen mit dem Karabiner 98k behagte uns ganz und gar nicht. Durch die HJ waren wir schon darin vorgebildet, doch sahen wir hier bei der Flak einen Nutzen nicht ein. Außerdem besaßen wir vorerst eine einzige neue Ausgehgarnitur, mit der sich der gesamte Dienst abspielte. Bald sollten wir auch mit Gewehr bei Fuß Wache schieben.
Unser Klassenlehrer Studienrat Dr. Brand wurde unser Betreuungslehrer. Er hatte die Aufgabe, Unterricht und Hausarbeit mit dem nötigen Zeitbedarf für die LwH bei der Batterieführung abzustimmen und wenn nötig, durchzusetzen; er sollte für eine geregelte Arbeitszeit sorgen, uns vor Überforderungen schützen und zudem sich noch um viele andere Dinge, die uns betrafen, kümmern. Es hat anfangs, von uns kaum bemerkt, manche Aussprache zwischen ihm und unserem Batteriechef gegeben. Seine Argumente wurden dabei weitgehend akzeptiert. Er war Offizier des 1. Weltkrieges, hatte reiche Lebenserfahrung, die würde seines Alters kam hinzu, so daß er manches Zuviel an Arbeit, Bürde und Aufgaben im militärischen Bereich bei uns vermindern oder abwenden konnte. Man sah schließlich auch ein, daß wir noch Jugendliche im heranwachsenden Alter waren, doch keine Rekruten! Führer und Ausbilder unserer Kompanie waren zudem meist verständnisvolle, durch Kriegseinsatz geformte, besonnene und im Umgang mit Menschen erfahrene Leute.
Als Herr StR Dr. Brand das erste Mal unsere Batterie betreten wollte, gab es beim Wachtposten Schwierigkeiten. Ein Zivilist hatte keinen Zutritt zum Wehrmachtsgelände. Soweit ich mich erinnere, mußte er im großen Bogen um den gesperrten Bereich gehen, bis er am anderen Ende unsere Kantine erreichte. Wir wunderten uns sehr über seine Verspätung, freuten uns aber doch, da Unterrichtszeit ausgefallen war. Nach diesem Vorfall wurde die Wache unterrichtet und angewiesen, zukünftig bestimmte Zivilisten, nämlich Lehrer und einen vom Dienst freigestellten Schüler bis zur Kantine durchzulassen.
Seitens der Batterie teilte man uns den Betreuungsoffizier Hartmann zu. Er sorgte für geregelten Ablauf des Dienstes; kleine und große Sorgen, auch Wünsche nahm er an und versuchte, sie abzustellen bzw. zu erfüllen. Er vertrat wo erforderlich unsere Belange.
Nach etwa zwei Wochen Dienstzeit kam eine Regelung für uns LwH. Wir erhielten eine Arbeitskleidung und einen Drillichanzug. Damit besaßen wir die erforderlichen 3 Garnituren. Wache stehen kam für uns nicht infrage, Ausbildung im Gelände und Einsatz an den Geschützen wurden weitgehend eingeschränkt. Wöchentlich sollte zweimal Unterricht in der Batterie und einmal im Schulgebäude oder in der Stellung Hege vormittags stattfinden.
Ein Tagesablauf war dann etwa so:
7 Uhr Wecken. Aufstehen, Betten machen, Waschen im benachbarten Bunker, Frühstücken, Abräumen; Kaffee holen, Geschirrwaschen, Tische und Stube säubern, aufräumen und den Ofen beheizen war Sache des nach Plan eingeteilten Stubendienstes. Er wechselte wöchentlich.
8 Uhr: Antreten am Appellplatz. Meldung der gesamten Kompanie durch den Spieß an den Batterieführer. Tagesablauf, Arbeitseinteilung und Besonderheiten wurden bekannt gegeben. Wegtreten.
9 Uhr: Schulunterricht mit je zwei Doppelstunden in den Fächern Deutsch, Mathematik, Geschichte, Erdkunde, Latein und Biologie. Zwischenzeitlich gab es eine Pause.
12 Uhr: Mittagessen und Mittagspause.
14 Uhr: Hausaufgaben.
18 Uhr: Abendessen.
19 Uhr: Feierabend, Dienstschluß.
22 Uhr: Nachtruhe, Schlafenzeit.
Die Unterrichtszeit war im allgemeinen so geregelt, daß ein Lehrer den ganzen Vormittag in der Batterie bleiben konnte. Jeder Lehrer war in der Lage in 3 oder gar 4 Fächern Unterricht zu erteilen. Manchmal blieb es jedoch nicht aus, daß ihn der Kollege nach 10 Uhr ablöste. Der Weg zur Batterie war beschwerlich. Die älteren Herren hatten eine weite und anstrengende Radfahrt hinter sich oder nach der Straßenbahnfahrt mit der Linie 12 von Buer bis Polsum folgte noch ein Fußmarsch von etwa 30 Minuten. Der Unterricht selbst wurde ruhig und behutsam durchgeführt. Die Lehrer beschränkten sich auf das Wesentlichste. Sie zeigten Verständnis für unsere Doppelbelastung. Alles in allem sagte uns ein Unterricht dieser Art zu. Notengebung und Lehrplan standen ziemlich im Hintergrund. Davon losgelöst erfolgte ein freier, unbeschwerter und aufgelockerter Unterricht. Dabei wurden auch Fragen, die uns damals bewegten, behandelt.
An manche Unterrichtsstunde entsinne ich mich noch heute. StR Dr. Brand versuchte außer Latein und Geschichte noch andere wichtige Dinge des Lebens zu vermitteln. Manchesmal erzählte er spannende Geschichten aus seiner christlichen Seefahrt; er war im 1. Weltkrieg Kapitän zur See gewesen. - Goethes Faust nahmen wir in Deutsch bei StR Koch durch. Er sagte auf Anhieb den 1. Teil fehlerfrei auswendig auf; den 2. wußte er teilweise ebenso, was wir sehr bewunderten. Später erfuhren wir, daß er im Stellungskrieg 1916-18 in den Wach- und Freistunden sich oft mit Faust befaßt und dabei große Teile auswendig gelernt habe.
Chemie- und Physikunterricht konnte nur im Schulgebäude erfolgen, da dort Geräte und Stoffe zur Verfügung standen. Einmal in der Woche fuhren wir mit der Straßenbahn zur Hindenburgoberschule in der Breddestraße. Zu später Mittagszeit kehrten wir in die Stellung zurück, wo das Mittagessen noch bereitgehalten war. Ein Teil zog es vor, zu Hause zu essen und somit nach den Angehörigen zu schauen. Dabei schwänzte mancher den Unterricht, um fürs Daheim mehr Zeit zu haben. Zeitweilig erhielten wir mit den Hegener LwH in Hege selbst an einem Wochentag nachmittags Unterricht. Ursache war wohl hauptsächlich Lehrermangel. So konnte eine Lehrkraft zwei Klassen zugleich unterrichten. Frau StR Freienstein unterwies uns in Deutsch. Während sie mittelalterliche Gedichte vorlas und auslegte, schauten wir zum Fenster hinaus, wo uns einige neugierige Kühe auf der Weide unverwandt anblickten. Doch das war auf Dauer langweilig. Wir widmeten uns den Gedichten, die Kühe dem Fressen und Wiederkäuen. Essen gab es in Hege, wir trafen erst am Nachmittag wieder in unserer Stellung ein.
Die Abendzeit stand uns meist beliebig zur Verfügung. Manche lasen ein Buch oder die Tageszeitung, schrieben einen Brief, spielten Karten, hörten Rundfunkmusik (eine Lautsprecherleitung war von der Spießbaracke zu unserer verlegt, und wir durften, wenn dort niemand anwesend war, das Rundfunkgerät einstellen), unterhielten sich oder gingen zu anderen LwH oder Flaksoldaten, manchmal auch in die Kantine.
Unsere Baracke hatte 2 Schlafräume, 1 Eß- und Wohnraum und eine Geschirr- und Abstellkammer. Im allgemeinen störte man sich nicht gegenseitig, da für jeden gering Platz da war. Doch das ging nicht immer so glatt über die Bühne. Die beiden Beispiele sollen zeigen, daß ein Zusammenleben über längere Zeit bei beengten Verhältnissen gelernt und gekonnt sein muß:
Ein LwH befleißigte sich anfangs sehr, dem sehnlichen Wunsch seiner Eltern nachzukommen, das Geigenspiel recht oft zu üben. Doch ohne Lehrmeister und wahre Zuhörer – im Gegenteil, wir meckerten oft oder ahmten sein Spiel mit falschen Tönen nach – ließ sein Eifer allmählich nach. Eines Tages blieb seine Geige samt Fiedelbogen und Kasten zu Hause.
Ein anderer LwH war seiner Zeit weit voraus. Er hatte einen mittelgroßen Koffer, in dem sich Reformkost, Küchenkräuter und Gesundheitstee befanden. Zu jeder Mahlzeit öffnete er ihn, packte die notwendigen Sachen aus und bereitete sein Müsli oder die Essensbeigaben gründlich vor. Doch zur eigentlichen Mahlzeit blieb dann kaum noch Zeit übrig. Eines Tages ließ er schließlich den Koffer verschwinden; vielleicht mangelte es ihm auch an Nachschub der Kräuter und Zutaten.
Drei Wochentage entfielen auf den Unterricht, die übrigen drei Wochentage sahen etwa so aus: Nach dem Appell folgte für uns bis zur Mittagszeit meist theoretischer Unterricht, am Nachmittag geschah die praktische Ausbildung an den Meß- und Auswertungsgeräten mit entsprechenden Übungen. Eine kurze Unterweisung an den Geschützen erhielten wir ebenfalls.
Am Sonntag war die Weckzeit um eine Stunde verschoben, Appell fand nicht statt. Der Vormittag sollte als „Putz- und Flickstunde“ genutzt werden. Der Nachmittag stand jedem beliebig zur Verfügung.
Der militärische Unterricht hat verschiedenen Inhalt. Nachstehend soll das Wichtigste kurz behandelt werden:
Aufgabe der schweren Flak und unserer Einheit:
Feindliche Ziele (Flugzeuge) rechtzeitig zu erfassen und weiterzuverfolgen, die gewonnenen Meßwerte durch Geräte in Schießwerte umzusetzen, durch Geschützfeuer der 10,5 cm – Kanonen die feindlichen Flugzeuge zu vernichten, außer Gefecht zu setzen oder von ihrer vorgesehenen Flugbahn abzudrängen und schließlich unsere Meßwerte mit Zusatzangaben an die Nachbarbatterien und die übergeordnete Stelle weiterzuleiten.
Unsere 4 Batterien waren zur Untergruppe (Bataillon) unter Leitung des Majors Vieregge in Hege zusammengefaßt. Sie hatte das Hydrierwerk schoben und das Bunawerk Hüls und weiterhin die im Schußbereich liegenden Orte mit ihrer Bevölkerung und Werksanlagen zu schützen.
Zielerkennungs- und Auswertegeräte:
Das Ziel (Flugzeug) konnte mit zwei verschiedenen Geräten erkannt und erfaßt werden: das Kommandogerät (KdoGer) und das Funkmeßgerät (FuMG), heute besser unter dem Namen Radargerät bekannt.
Das KdoGer läßt das Ziel mit den Augen, also optisch erkennen. Es versagt naturgemäß, wenn sich das Flugzeug in oder über den Wolken befindet, in der Dunkelheit nicht von Scheinwerfern ausgemacht ist, oder wenn am Boden Nebel vorherrscht. Zunächst wird das KdoGer grob über die Visierrichtung auf das Ziel eingestellt, dann von drei Bedienungssoldaten über optische Linsensysteme mit Entfernung, Seiten- und Höhenwinkel erfaßt (bezogen auf die Nordrichtung vom Mittelpunkt der 4 Geschütze aus). Das Gerät kann beliebig oft im Kreise gedreht werden – was wir anfangs zur Karussellfahrt benutzten. Regelbare Gleichstrommotore bewirken alle Einstellungen. Ein elektromechanisches Rechensystem im Gerät setzt die Meßwerte unter Berücksichtigung von Luftdruck und mittlerer Windgeschwindigkeit in Schußwerte um, ermittelt dabei Flughöhe, Geschwindigkeit und Flugrichtung (Kurs) des Zieles. 5 LwH wurden an dem Gerät ausgebildet, wobei 2 den mittleren Kurs und die mittlere Geschwindigkeit anhand angezeigter, streuender Werte abschätzen und einstellen mußten. Denn der Flugzeugführer änderte oft Richtung, Höhe und Geschwindigkeit seiner Maschine, um so dem Geschützfeuer zu entgehen. Hat das Geschoß das Rohr verlassen, so braucht es meist einige Sekunden, bis es den errechneten Zielpunkt erreicht; seine Bahn liegt fest und läßt sich nicht mehr ändern. Durch vielfältige Einflüsse streuen zudem die Flugbahnen etwas. Die amerikanischen Flugzeuge waren sehr gut gepanzert, zudem traten sie meist in Pulks von einigen Hunderten auf. So ist es verständlich, daß auf mehrere tausend Geschosse nur ein Treffer kam.
Das Funkmeßgerät (FuMG) erfaßte das Ziel mit elektronischen Wellen im Dezimeterbereich. Wir hatten damals das allgemein übliche Doragerät. Vorteile gegenüber dem KdoGer: Es „sieht“ durch Nacht und Nebel, mißt die Entfernung höchst genau und findet Ziele in sehr weiten Bereich. Nachteil: Höhen- und Seitenwinkel werden nicht genügend genau gemessen. – Die 3 ermittelten Werte werden elektrisch zum KdoGer übertragen und dort von der Bediensteten eingegeben. LwH bedienten ebenfalls das FuMG weitgehend.
Beste Ergebnisse wurden mit einer Kombination beider Meßverfahren erzielt. Deshalb wurde es soweit möglich grundsätzlich angewandt.
Genannt werden muß noch das Malsigerät. Im Unterstand neben dem KdoGer befand sich ein großer Tisch mit beschreibbarer Glasplatte und unterlegter Meßtischkarte. Die ermittelten Meßwerte wurden so eingetragen, daß man die jeweilige auf die Erde projizierte Lage des Flugzeuges als Planquadrat gewann. Diese Planquadratwerte gab ein LwH fernmündlich an die benachbarten Batterien und übergeordnete Dienststelle an, damit sie auf umgekehrten Wege das Flugzeug rasch auffinden konnten. Zusätzlich erfolgten Angaben über Anzahl der Bomber, Höhe und Geschwindigkeit. –
Notfalls, wenn keine eigenen Meßwerte zur Verfügung standen (Ausspiegeln des FuMG durch Staniolstreifen, die bündelweise abgeworfen wurden), konnten die Planquadratwerte umgesetzt und ins KdoGer eingegeben werden, um so Schußwerte – wenn auch ungenau – zu ermitteln.
Weitere Gebiete mögen nur genannt werden:
Versorgungs- und Übertragungseinrichtungen der Geräte, Geschützbedienung, Geschoßflugbahn, Flugzeugerkennungsdienst, Verhalten bei Flieger- und Gasalarm, Gesundheitswesen, Verhalten außerhalb der Batterie ( bei Urlaub, Ausgang, im Lazarett usf.), Verwaltungswesen, Vorgesetzte und organisatorischer Aufbau der Flak und Hilfskräfte, Geheimhaltung.
Hand in Hand mit dem Unterricht gingen praktische Ausbildung und vielfältige Übung an den Geräten vonstatten. So sollte ein LwH alle Tätigkeiten entweder am KdoGer oder am FuMG beherrschen, um jederzeit austauschbar zu sein. Hinzu kamen, vorallem bei Voralarm, Flugzeugausschau, Abhören von Flugmeldungen im Überwachungsstand, Aufnehmen von Abschlußberichten, Ausarbeiten der Meßprotokolle.
Tagsüber fanden zuweilen in festgesetzten Zeiten das „Zielschießen“ statt: Eine deutsche Maschine schleppte 1 oder 2 Luftsäcke weit hinter sich her; die im Winde aufgeblähten Säcke sollten getroffen, zerschossen werden. Allerdings war hierbei gegenüber einem feindlichen Bomber rascher ein Treffer zu erzielen. Unsere ältere Maschine flog bei guter Sicht niedrig, gemächlich und änderte kaum Kurs, Geschwindigkeit oder Höhe. Waren die Säcke zerschossen, mußte die Übung zwangsläufig beendet werden. Später verbesserte man das Verfahren: Man schoß über ein Zusatzgerät spiegelbildlich nach dem Flugzeug. Statt vorgehaltener Flugbahn verließen nunmehr die Granaten die Geschützrohre mit nachgeführter Bahn; das Flugzeug wurde nicht getroffen. Optische Beobachtungs- und Aufnahmegeräte spiegelten sodann die in der Luft zerplatzenden Granaten in die Flugzeugbahn hinein. So konnten eventuelle theoretische Treffer ermittelt werden.
Alarmübungen wurden zu beliebiger Zeit überraschend angesetzt, um die Einsatzbereitschaft der Mannschaft zu prüfen. Innerhalb weniger Minuten mußten alle Geräte besetzt und einsatzbereit sein. Manch einer trifft, mit Jacke und Mantel über den Arm, auf seinen Platze ein, noch ganz außer Atem vom eiligen Lauf. Die Abdeckplanen werden von Geschütz oder Gerät heruntergezogen, die Anlagen eingestellt, Übertragungs- und Fernsprecheinrichtungen geprüft. Die Wachtmeister schauen nach, ob alles vollzählig besetzt und feuerbereit ist. Meldung erfolgt an den Batteriechef. Wenig später heißt es: „Probealarm beendet, wegtreten!“ Geräte abschalten und zudecken, Wache aufziehen, alles geht wieder seinen gewohnten Gang.
Es konnte jedoch geschehen, daß kurz darauf, ja sogar während der Übung Feindeinflug gemeldet und dann richtiger Alarm gegeben wurde.
Auch Gasalarm wurde eingehend geprobt. Die oberste militärische Leitung befürchtete trotz der Genfer Konvention sehr, daß im Laufe des härter werdenden Kriegsgeschehens irgendwann Giftgas eingesetzt werden könnte. Wir LwH betrachteten diese Übungen eher als Spaß denn als Ernst. Das weithin schallende Getöse eines glockenförmigen Gebildes, das mit einem Rohr kraftvoll behauen wurde kündigte eine ulkige Schau an. Das von der unförmigen Gasmasken bedeckte Gesicht war nicht mehr zu erkennen, das Blickfeld erheblich eingeengt und die sprachliche Verständigung ziemlich schwierig. Das führte zu reichlicher Verwirrung, zu Mißverständnissen. Meldungen oder Befehle verstand mancher falsch oder überhaupt nicht. Danach wurde auch gehandelt, und erst nach längeren Hin und Her kam eine sinnvolle Arbeit zustande. Oft stellten wir uns gänzlich unwissend oder schwerhörig. Die Vorgesetzten nahmen das mit Humor auf oder hielten uns umgehend ebenfalls zum Narren.
Die Wirklichkeit selbst war für uns der beste Lehrmeister. Hatten wir anfangs alle zwei oder drei Tage Alarm, so steigerte er sich bald auf einen täglichen. Vorwiegend nachts zu vorgerückter Stunde flogen die Feindverbände ein. Die wenigen englischen zweimotorigen Bomber tauchten kaum noch auf, nur noch viermotorige, vorwiegend vom Typ Halifax und Lancaster, erschienen am Himmel. Nicht immer kamen die Geschütze zum Feuern; es sei, daß der Verband den Kurs änderte, abschwenkte, unseren Schußbereich nicht berührte oder deutsche Jagdflugzeuge zur Abwehr gemeldet waren. Einen versehentlichen Abschuß eigener Maschinen wollte man unbedingt vermeiden! Leider schoß eine Batterie, die zum Rhein hin lag, ein deutsches viermotoriges Flugzeug ab. Da Feindanflug gemeldet, hatte es im Tiefflug einen anderen Kurs gewählt. Zudem rechnete die Batterie mit keinem deutschen viermotorigen Typ, da es davon sehr wenige Maschinen gab.
Die Feindverbände umfaßten etwa 50, 100 oder mehr Maschinen. Oft folgten drei, vier oder gar fünf Pulks nacheinander. Besonders dann, wenn Essen und die Kruppwerke ihr Ziel waren. Ganz in der Ferne, in Richtung Buer, sah man den Himmel in großer Breite rötlich neblig erhellt. Wir wußten, daß es dort wieder brannte und die Bomben viele Wohnhäuser, Straßenviertel getroffen hatten. Oftmals nahmen wir die Bomber auf ihren Rückflug, sofern sie nicht einen anderen Weg einschlugen, wieder unter Feuer. Bei Großeinsätzen, also mehreren Einflügen – oft von verschiedenen Seiten -, die sich über Stunden hinziehen konnten, waren viele hundert Schuß abgegeben worden. War dann Ruhe eingekehrt, hörten wir von den Geschützständen das Klappern und blecherne Scheppern der Kartuschen, die gezählt wurden. Die Führung wollte rasch Bescheid über die verbrauchte Munition wissen, damit der Nachschub schnell in die Wege geleitet werden konnte. Einige wenige Male erlebten wir, daß die Geschoßvorräte unmittelbar neben den Geschützen, gut in der Erde verbunkert, nicht ausreichten. Nachschub mußte vom nächsten Lager in etwa 100 m Entfernung herbeigeschafft oder von Lastwagen abtransportiert werden. Alle entbehrlichen Kräfte, so auch einen Teil der LwH, setzte man ein. Kein Problem war es, ein schweres Geschoß herbeizutragen. Jedoch der unheimlich laute Knall, verbunden mit dem grellen Lichtblitz beim Abfeuern konnte einen betäuben und fast blind machen. Dazu kamen Eile – die Kanoniere riefen nach Munition – und Enge des umwallten kleinen Gefechtsstandes. Noch Tage danach waren unsere Ohren halbtaub. Den Kanonieren machte der Geschützlärm wenig aus. Zum einen waren sie es gewohnt, zum anderen schützten sie ihre Ohren mit Watte. Bei solch einem ersten Einsatz lief ein LwH hilflos umher. Am nächsten Tag stellte sich heraus, daß er nachtblind war. Obwohl er es wußte, hatte er versucht, sein bestes zu geben.
Betrug die Fluggeschwindigkeit der Verbände Anfang 1943 noch etwa 110 m/s im Durchschnitt, so war sie bald auf 120, teilweise 130 m/s gestiegen. Die Flughöhe lag je nach Sichtverhältnissen und Bombenlast bei etwa 4000 bis 8000 Metern.
Allgemein galt: Alarmeinsatz hat Vorrang bei allen Tätigkeiten. Ob beim Essen, Unterricht, Appell oder Feldübungen, sofort mußte jeder an seinen zugewiesenen Platz eilen. Dabei war zu unterscheiden zwischen (Alarm-) Bereitschaft und (dem eigentlichen) Alarm. Bereitschaft hieß: Feindverbände im Anflug, doch noch genügend weit außerhalb des eigenen Schußbereiches. – Einige Soldaten und LwH besetzten umgehend Geräte und Geschütze, Luft(raum)-Beobachtungsposten zogen auf und im Umwerteraum nahm man die gemeldeten Flugbahnen auf, zeichnete sie auf den Kartentisch ein. Nachts reichte die Zeit meist aus, sich zügig anzuziehen. Doch oft erfolgte sofortiger Alarm. Es hieß sich sputen, denn wenig später standen die Flugzeuge am Himmel.
Die Engländer hatten ein Aufklärungsflugzeug, die „Moskito“ gebaut. Es hieß, sie sei ein erheblich verbesserter Nachbau eines Messerschmidt-Flugzeuges. Zwei hochwertige Motore und ein leichter Sperrholz-Flugzeugkörper ließen die Maschine bei großer Höhe dennoch eine rasche Geschwindigkeit beibehalten. Sofern ich mich nicht täusche, lag bei einem Anflug die Höhe bei etwa 12 000 oder 13 000 m und die Geschwindigkeit bei 160 m/s. Der Pilot war unbemerkt ins Reichsgebiet eingeflogen und wurde erst am Rande des Ruhrgebietes von einem FuMG aufgefaßt. Wir konnten nur wenige Schüsse abgeben, etwa 3 oder 4x4 an der Zahl, da die Flughöhe unserer Geschosse nicht weiter nach oben reichte! – Ein andermal entdeckte ein Hertener LwH, wir sagten, er habe ein Adlerauge, bei der Luftüberwachung mit bloßem Auge ein winziges, silberglänzendes Pünktchen am Himmel. Bei sofortigem Alarm, ein Klingelknopf befand sich beim Beobachtungsposten, gelang es uns, das Ziel mittels FuMG und KdoGer rasch aufzufassen und mit den Geschützen zu befeuern. Einmal erfaßt, ging die Meldung sofort an alle Nachbarbatterien, und das Flugzeug blieb weiterhin unter Beschuß.
Bei solch überraschendem Feindanflug heulten die Sirenen in den Nachbarorten oft erst auf, wenn die Maschine schon längst vorbeigeflogen war. Später verzichtete man auf Alarm in den Städten, da man erfahrungsgemäß wußte, daß diese Einzelgänger nur Aufklärungsflugzeuge waren. Sie sollten meist fotografisch die Bombenschäden der letzten Angriffe feststellen, um so der eigenen Führung die notwendigen Unterlagen für eventuelle weitere Angriffe zu geben oder das Ausmaß der Zerstörung zu erfassen.
Wir stellten in unserer Luftwaffenhelferzeit fest, daß Taktik und Überlegenheit des Gegners schrittweise zunahmen; die technische Entwicklung verlief vorallem in den USA ungestört, und der Nachschub an Menschen und Material schien unerschöpflich. Die Flugzeuge änderten, sobald sie ins Feuer gerieten, geringfügig Richtung, Höhe oder Geschwindigkeit. Hatte unser Geschoß das Rohr verlassen, so zog es entlang seiner festgelegten Bahn und zerplatzte meist erst nach Sekunden. Bis dahin hatte aber der Flugzeugführer längst eine andere Position als die von KdoGer berechnete eingenommen. Zudem minderte die starke Panzerung der Maschinen die Wirkung unserer Gruppe von vier Geschossen. Die Batterien selbst konnten nur wenige der zahlreichen Flugzeuge ins Visier nehmen; die anderen des Verbandes blieben mehr oder minder unbehelligt. Das schloß nicht aus, daß ein Zufallstreffer irgendeinen Bomber vernichtete.
Wir hatten Anweisung, vorallem die ersten Maschinen eines Verbandes unter Feuer zu nehmen, um bei einem Treffer die nachfolgenden moralisch so zu schocken und verwirren, daß sie ihren Kurs änderten, vorzeitig abdrehten oder ihre Bombenlast viel zu früh und wahllos abwarfen; damit gewannen sie an Höhe und Geschwindigkeit und entflohen rascher dem Feindfeuer.
Die Alliierten setzten 1943 vermehrt kurzfristig ausgebildete und daher unerfahrene Piloten ein, bedingt durch größere, häufigere Einsätze und höhere Verluste. Führung und Navigation eines oder mehrerer Verbände übernahm ein Leitflugzeug. Es setzte unterwegs sehr langsam zur Erde schwebende Leuchtkugeln, um so den nachfolgenden den Flugweg zu kennzeichnen. Am Zielort markierten sie das Bombenabwurfgebiet (Flächenbombardement) mit sogenannten Christbäumen. Das waren Leuchtkugelhaufen in der Form von Christbäumen. Hatte der Verband das Gebiet erreicht, so warf er die Bombenlast ab und kehrte schleunigst um. Keiner der Feindflieger wollte länger als nötig in Todesgefahr schweben. Auch hier galt es für uns, diese Leitmaschine mit allen Kräften zu befeuern. War sie getroffen, so waren die nachfolgenden Verbände führerlos, erreichten meist den Zielort nur ungenau oder verflogen sich gar.
In der ganzen Zeit – über ein Jahr – blieb unsere Batterie von Bombenangriffen, auch Notabwürfen verschont. Wir hatten keine Verluste zu beklagen, fühlten uns auch weitgehend im Schutze der Kanonen sicher.
Die wenige hundert Meter von uns entfernt aufgebaute 2 cm-Flak zog man Anfang 1943 weg. Erfahrungsgemäß rechnete man nicht mehr mit Tieffliegern. Sie soll damals zum Schutz der Reichshauptstadt Berlin versetzt worden sein.
Etwa 1 km von uns entfernt befand sich ein Scheinwerfertrupp. Sie hatten zur Zielauffassung und -verfolgung ebenfalls ein FuMG gleicher Bauart wie wir. Das kam uns eines Tages gut vonstatten. Während des Alarms fiel der Empfangsteil unseres FuMG aus. Ein Anruf bei den Nachbarn genügte, ein Obergefreiter packte den Kasten unter den Arm, schwang sich aufs Fahrrad und war binnen kurzer Frist mit dem bei dem Scheinwerfertrupp ausgetauschten Teil wieder zurück. Einsetzen und in Betrieb nehmen war eins, und wir waren für die Peilung der anfliegenden Verbände bereit. Das Ersatzgerät traf abends bei uns ein und wenig später war der Scheinwerfertrupp für die Nacht gerüstet.
Im Umkreis des Hydrierwerkes Schoben befanden sich zu Anfang des Krieges Fesselballone, die an dünnen Stahlseilen befestigt waren. Sie sollten Tiefflieger abwehren, da sie sich an den Seilen zerrissen hätten. Die Ballone verschwanden bald, denn der Feind setzte hier keine Tiefflieger ein; das Risiko war ihm zu groß. Stattdessen stellte man rund um das Hydrierwerk Nebelgeräte auf, die es tagsüber bei klarer Sicht und Feindanflug in eine Nebelwolke hüllten. Zwischen Polsum und unserer Stellung zogen sich mehrere Nebeltöpfe hin, die meistens von hilfswilligen Russen (Hiwis) bedient wurden. Einmal mußten wir, vom Schulunterricht aus Buer oder Hege kommend, durch diese Rauchschwaden zur Stellung gehen. In Augen und Atemwege scharf ätzender Nebel schlug uns entgegen. Unter Husten liefen wir rasch durch, während die Hiwis in Schutzkleidung die Regelhähne kräftig aufdrehten. Die Soldaten in der Batterie bestätigten uns zudem, daß dieser Nebel ätzend und beißend sei, zudem sollten wir die Kleidung rasch ausklopfen, abbürsten und Hände sowie Gesicht gleich waschen.
Eines Tages gab es Suchalarm. Ein oder zwei Russen der Nebelmannschaft hatten die Gelegenheit genutzt und hauten während des Alarms ab. Soweit ich mich erinnere, hat man später nur einen erwischt. Man wußte ja nicht, ob sie sich verstecken, nach Hause durchschlagen oder zu Widerstandsgruppen überlaufen wollten; auch waren Sabotageakte zu befürchten.
In unserer Stellung setzte man ebenfalls Hiwis ein. Die Belegung schwankte zwischen sechs bis zwölf Russen. Sie waren in einer eigenen Baracke untergebracht, schafften Munition herbei und arbeiteten in vielfältiger Weise. Sie waren meist gutmütig und friedfertig und etwa seit etwa zwei Jahren bei uns. Eines Tages trafen neue Hiwis ein. Wie von den Landsern angekündigt, sorgten sie für starke Unruhe unter ihresgleichen. Sie brachten Siegeszuversicht und die gegnerische Propaganda mit. Kam man an der Russenbaracke vorbei, hörte man heftiges Reden und Diskutieren; jeder wollte jeden überzeugen. Innerhalb dreier Wochen hatte sich der Neuzugang dem täglichen Leben gefügt und den Gegebenheiten angepaßt. Für Unterkunft, Essen und Kleidung, wenn auch in einfacher Form, war gesorgt, die Arbeit geregelt, und so konnte man in Ruhe das Kriegsende abwarten. Zudem erwarb sich mancher Russe durch zusätzliche Arbeit etwas Brot oder Geld, und in der Kantine konnten sie dafür Getränke oder Kleinigkeiten erwerben. Abends sangen sie manchesmal ihre schwermütigen Lieder oder setzten sich bei schönem Wetter vor die Tür, um zu plaudern, zu schnitzen oder nichts zu tun.
Nach nächtlichem Fliegeralarm wurde Wecken und Dienstbeginn um eine oder zwei Stunden verschoben. Dauerte der Alarm bis in die frühen Morgenstunden, fiel der gesamte Vormittagsdienst aus.
Einige Wochen nach unserer Einberufung trafen weitere LwH aus Herten ein. Sie erhielten weitgehend eine eigene Unterkunft, kamen aber auch teilweise zu uns auf die Stuben. Sie wurden mit uns ausgebildet und eingesetzt. Die dadurch freiwerdenden Flaksoldaten gelangten, soweit sie kriegsdienstverwendungsfähig (KV) waren, zum Fronteinsatz.
Das Zusammenleben aller LwH untereinander mußte in der ersten Zeit eingeübt werden. Meinungsverschiedenheiten waren zu glätten, störende Gewohnheiten abzulegen und Rücksichten auf andere zu nehmen. anderseits verleitete Jugend und Unbekümmertheit uns zu manchen Taten und manchem Streich. Kaum hatte der wachhabende Unteroffizier in unsere Stuben abends nach dem Rechten gesehen, ging der Budenzauber los. Wir tobten umher, machten Jux und balgten uns auch, daß im wahrsten Sinne des Wortes die (Doppelstock-) Betten wackelten. Zum Glück konnten sie nur ein Stück zur Seite kippen, da sie bei den beengten Verhältnissen gleich an die Wand oder an ein Möbelstück stießen. Einmal flog der Längste von uns achtkantig aus dem obersten Bett. Mit Kopf und Rücken knallte er auf den Boden. Wir bekamen einen gehörigen Schreck, doch war ihm gottlob nichts geschehen; der federnde Holzboden hatte seinen Aufprall gemildert.
Auch zwischen den beiden Zimmern unserer Unterkunft und den der benachbarten LwH entspannen sich Scheingefechte mit Stöcken, Hölzern, Wasserkannen und -schüsseln. Reichte das Wasser nicht aus, so griffen wir zu den vor der Unterkunft aufgehängten Feuerlöscheimern und schleuderten den Inhalt zum Gegner hin. Jux und Rabatz gingen so lange gut, bis zu später Abendstunde unser Batteriechef unerwartet einen Rundgang durch die Stellung machte. Gerade wollten wir, ganz barfuß und nur mit dem Trainingsanzug bekleidet, auf die anderen einstürmen, da öffnete sich unverhofft die Tür, und der Chef mitsamt Wachhund trat uns entgegen. Das Erstaunen war beiderseits sehr groß, hatte doch keiner diesen „Gegner“ erwartet! Dazu trafen noch die anderen LwH ebenfalls gut bewaffnet ein. Das reichte dem Chef! Er faßte sich rasch, holte tief Luft und ließ ein kräftiges Donnerwetter auf uns los. (Der Wachhund – eine Sie namens Asta – selbst war gar nicht so mutig; er trat rasch den Rückzug an.) Entsprechende Strafandrohung und größere künftige Überwachung beendeten ein für allemal unser fröhliches Treiben.
Im Laufe des Jahres 1943 wurde der Jahrgang 1925 zum Reichsarbeitsdienst oder zur Wehrmacht eingezogen. Das riß vorallem in der Flakstellung Scholven-Ulokotte Lücken. Auch weitere Flaksoldaten, sofern sie voll einsatzfähig waren, forderten die Fronten zum Einsatz. So kam der nächste Schülerjahrgang 1927 und 1928 als LwH etwa im Spätherbst 1943 in einige Stellungen. Sie bezogen teilweise unsere Quartiere, während wir in die leerstehende 2 cm-Flak-Unterkunft und später in den Erdbunker neben den Kommandoständen einzogen. Mehr Freiheit hatten wir, denn die Ausbildung war weitgehend abgeschlossen, doch die Feindangriffe nahmen an Häufigkeit, Dauer und Stärke zu.
Erstmals hörten wir etwas von Raketenwerfern, die in Lippramsdorf aufgestellt waren. Doch war die technische Entwicklung noch nicht so weit, daß man die Raketen fernsteuern konnte. Man schoß deshalb Sperrfeuer in bestimmte Gebiete – und die Feindmaschinen mieden sie!
Viel Sorge bereiteten uns die Stanniolstreifen. Die Führungsflugzeuge warfen sie bündelweise ab. Der erste Einsatz kam völlig überraschend. Die ganze Luft war voller Silberstreifen. Sie „blendeten“ alle FuMG, das Ziel konnte bei Nacht und wolkenbehangenen Himmel nicht erfaßt werden; Scheinwerfer suchten vergeblich, die Wolken zu durchdringen. Einige Batterien schossen auf gut Glück und um die Bevölkerung zu beruhigen, die ja den Motorenlärm und die Bombenexplosionen wahrnahmen.
Am nächsten Tag übten wir, auch dieses Hindernis zu umgehen. Es hatte sich gezeigt, daß einige FuMG Lücken im streifendurchsetzten Luftraum entdeckt hatten oder mit seitlicher Anpeilung Ziele auffassen konnten. Sie gaben die Position der Maschinen in Planquadraten an und wir schossen in den nachfolgenden Nächten oft mit Hilfe des Malsigerätes. Bald half die technische Entwicklung weiter. Ein Zusatzgerät im FuMG siebte aus den Störungen der Streifen die Drehzahlfrequenz der Flugzeugpropeller heraus und gab so meistens brauchbare Meßwerte.
Bei einem Angriff aufs Hydrierwerk Schoben fielen mehrere Bomben auf Buer-Hasseler Gebiet. Eine Bombe, wohl Luftmine, zerstörte dabei auch das Einfamilienhaus eines Kameraden völlig bis in den Keller; selbst der Luftschutzraum hielt dem nicht stand. Früh am Morgen, von uns unbemerkt, wurde er vom Batteriechef benachrichtigt und sofort nach Hause geschickt.
Das Verhängnis war erschütternd: Mutter tot, ebenso seine Tante mit den beiden Kindern! Die Verwandten waren tagszuvor von Dortmund (oder Bochum) gekommen, weil sie sich hier im halbländlichen Vorort sicher fühlten. Sein Vater überlebte, er kam von der Nachtschicht erst frühmorgens nach Hause.
Der Gesundheitszustand machte uns selten schaffen. Einmal jedoch brach eine infektiöse Gelbsucht aus. Zunächst wurden nur wenige, dann aber vorsorglich über die Hälfte der LwH ins Krankenhaus Bergmanns-Heil gebracht, wo wir uns etwa zwei Wochen auskurierten. Merkwürdigerweise blieben die Soldaten, die ja älter als wir waren, nahezu vollständig von der Gelbsucht verschont.
Urlaub gab es für uns etwa zwei bis drei Wochen im Jahr, den wir meistens zu Hause verbrachten. – Nur ein LwH erhielt das Flakkampfabzeichen, da er in der Zeit, in der die 8 Feindmaschinen von unserer Batterie abgeschossen wurden, stets im Einsatz war. – Etwa nach einem halben Jahr Dienstzeit wurden wir zum Oberluftwaffenhelfer befördert. Ein LwH erhielt für eine technische Weiterentwicklung am Malsigerät das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse. Er hatte damit einen Bediensteten eingespart!
Feste feierten wir in der Kantine. Die Soldaten hatten sie mit wenigen Mitteln, dafür aber mit viel Liebe verschönert und ausgeschmückt. Dazu wurde neben der Kantine die neue Küche aufgebaut. Wir hielten uns in der Kantine, außer zur Mittagszeit, wenig auf. Es gab ja nur Dünnbier, einige Getränke und wenige Kleinigkeiten zu kaufen.
An das Weihnachtsfest erinnere ich mich noch gut: Ansprache, Lieder, Vorträge, Musikstücke und dazu ein hell erleuchteter Christbaum. Schließlich gab es eine kleine Bescherung nach einem besonderen, guten Abendessen; für uns war das Geschenk eine Schachtel mit verschiedenen Süßigkeiten.
Die Abschiedsfeier Anfang 1944 war mit Liebe und Sorgfalt durchgeführt. Wenige Tage später zogen wir zum Arbeitsdienst oder zur Rekrutenausbildung in die verschiedensten Wehrmachtsgattungen. Zurück blieben die Ende 1943 gekommenen LwH, die unsere Arbeit mit gleicher Sorgfalt und gleichem Eifer übernahmen.
Das Schicksal der Batterien besiegelte die Wende zum Jahr 1945: Stellungswechsel, Verluste an Menschen und Material, Einsatz in Kampfeinheiten und schließlich Auflösung und Gefangenschaft. Einigen Soldaten gelang es, ihr rechtzeitig zu entgehen, vorübergehend unterzutauchen oder sich zu verstecken.
Die Flakzeit ist für uns ehemalige Luftwaffenhelfer nicht nur eine besondere Erinnerung. Sie formte uns Jugendliche sehr entschieden zu Menschen, die allzufrüh ihren ganzen Mann stehen mußten. Sie war eine Zwischenstufe zu der für viele darauf folgende Soldatenzeit mit Fronteinsatz, oft auch Verwundung, Gefangenschaft oder Verschleppung. die Zeiten wirkten bei jedem einschneidend und auf persönliche Weise auf das spätere Leben.
Viele ergriffen nach dem Kriege und nach ihrer Heimkehr recht bald einen Beruf, ein Studium, ein Praktikum oder besuchten den Förderkurs der Schule, um so das vollwertige Abitur nachzuholen.
Diese Aufzeichnungen stellen einen knappen Werdegang der Luftwaffenhelfer unserer Schule vorwiegend in Polsum dar. Das meiste wurde aus dem Gedächtnis in wenigen Tagen niedergeschrieben. So mögen nicht alle Angaben in zeitlicher oder anderer Hinsicht vollständig oder ganz genau sein. Dennoch mögen sie einen genügenden Einblick in das damalige Geschehen vor genau vierzig Jahren gewähren.
Niederschrift des Hans-Jürgen Migenda 1983
© Thorsten Migenda 26.12.2017